Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 9. Oktober 1990-2 BvR 1863/89, 2 BvR 1864/98, 2 BvR 1865/89, 2 BvR 1866/89

Bundesverfassungsgericht

IM NAMEN DES VOLKES

In dem Verfahren

Über

die Verfassungsbeschwerden

der äthiopischen Statsangehörigen

1.         Frau

gegen

a)         den Ebschluß des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 16. Oktober 1989 - 22 B 22225/89 -,

b)         das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 29. Juni 1989 - 1 K 12775/87 -

- 2 BvR 1863/89 -,

2.         des

gegen

a)         den Beschluß des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 16. Oktober 1989 - 22 B 22226/89 -,

b)         das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 29. Juni 1989 - 1 K 12300/87 -

- 2 BvR 1864/89 -,

3.         des Herrn,

gegen

a)         den Beschluß des Oberverwaltungsgrichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 16. Oktober 1989 - 22 B 22626/89 -,

b)         das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 29. Juni 1989 - 1 K 13460/87 -

- 2 BvR 1865/889 -,

4.         des Herrn

a)         den Beschluß des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 16. Oktober 1989 - 22 B 22222/89 -,

b)         das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 29. Juni 1989 - 1 K 12584/87 -

- 2 BvR 1866/89 -

-           Bevollmächtigte der Beschwerdeführer zu 1. bis 4. : Rechtsanwälte Martin Scheicher und Kollegen, Riphahnstraße 9, Köln 71 -

hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch die Richter Böckenförde,

Kruis, Franßen

am 9. Oktober 1990 einstimmig beschlossen: Die Urteile des Verwaltungsgerichts Köln vom 29. Juni 1989 - 1 K 12775, 12300, 13460 und 12584/87 - verletzen die Beschwerdeführer zu 1. bis 4. in ihrem Grundrecht aus Artikel 16 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes. Sie werden aufgehoben. Die Sachen werden an das Verwaltungsgericht köln zurückverwiesen. Damit werden die Beschiüsse des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 16. Oktober 1989 - 22 B 2225, 22226, 22626 und 22222/89-gegenstandslos. Das Land Nordrhein-Westfalen hat den Beschwerdefürern die notwendigen Auslagen zu erstatten.

Gründe:

A.

Die Verfassungsbeschwerden betreffen die Frage, unter welchen Voraussetzungen von einem Verlust der Gebietsgewalt eines Staates, welcher in einen Bürgerkrieg verwickelt ist, mit der Folge auszugehen ist, daß sich seine Handlungen nicht als asylerhebliche Maßnahmen darstellen.

I.

1.         Die Beschwerdeführer, eine Frau und drei Männer, die zwischen 18 und 22 Jahren alt sind, sind äthiopische Staatsangehörige eritreischer Volkszugehörigkeit und christlichen Glaubens. Sie stammen sämtlich aus der eritreischen Provinzhauptstadt Asmara. Sie reisten in die Bundesrepublik Deutscland zwischen August 1985 und Mai 1986 ein, nachdem sie zwischen Juli 1985 und Mai 1986 Äthiopien verlassen hatten und sämtlich über den Sudan (Khartoum) in eine europäische Hauptstadt (London, Paris, Rom) geflogen waren. Ihre Zwischenaufenthalte im Sudan und in Europa dauerten zusammengenommen in keinem Falle länger als zwei Monate.

a)         Nach den Gründen der angegriffenen verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen begründeten die Beschwerdeführer ihre Asylanträge wie folgt:

aa)        Die Beschwerdeführerin zu 1., deren Bruder in der Bundesrepublik als Asylberechtigter lebt, gab an, sie sei in Asmara auf Werbung einer Schulfreundin Mitglied einer Zellle der EPLF (''Eritrean People's Liberation Front'') geworden, habe Beiträge gezahlt und gesammelt, Schriften verteilt und an Schulungen teilgenommen. Nach der Vergaftung der Freundin habe sie ebenfalls eine Verhaftung befürchtet und sei geflohen.

bb)        Der Beschwerdefüfhrer zu 2. trug vor, sein Vater sei Arzt und unter der Beschuldigung, EPLF-Kämpfer behandelt zu haben, mehrfach für mehrere Monate inhaftiert worden. Die Polizei hade Hausdurchsuchungen vorgenommen und die Angehörigen unter Schlägen und Drohungen nach dem Tun des Vaters befragt. Wegen der Weigerung, am politischen Unterricht teilzunehmen (die Schulung sei von denselben Männern geleitet worden, die seinen Vater verhaftet hätten), sei er von dem Lehrer geschlagen und beschimpft worden. Im Alter von neun Jahren sei er einer Schülergruppe der EPLF beigetreten. Er habe heimlich politische Versammlungen besucht und Plakate geklebt. Im Alter von zwölf Jahren habe er sich mit einem Freund ohne Wissen der Eltern ins Kampfgebiet begeben wollen, um die EPLF zu unterstützen. Nach dem Verlassen Asmaras seien sie von zwei Soldaten zum Stehenbleiben aufgefordert worden. Sein Freund sei geflohen, er selbst sei nach dem Reiseziel befragt worden. Ein Soldat habe mit dem Messer in Richtung seines Halses gestoßen und ihn leicht verletzt. Dabei habe er, der Beschwerdeführer, das Gleichgewicht verloren und sei mit dem Kopf auf Steine aufgeschlagen. Er sei zwei Tage ohne Bewußtsein und sechs Monate in stationärer Behandlung gewesen. Nach der Entlassung habe er sich zu Hause aufgehalten und sei der Schule ferngeblieben. Die Mutter habe befürchtet, daß er wegen des entdeckten Fluchtversuchs als Regimegegner angesehen und verhaftet werden könnte. Deshalb habe sie seine Flucht organisiert. Bei der Abreise sei der Vater wieder einmal inhaftiert gewesen.

cc)        Der Beschwerdeführer zu 3. gab an, von März bis Mai 1985 wegen einer Weigerung, am Unterricht in Marxismus/Leninismus teilzunehmen, inhaftiert und erst nach entsprechender Verpflichtungserklärung wieder entlassen worden zu sein. Deswegen und weil er befürchtet habe, er könne ebenso wie Freunde und Kollegen zur Ableistung des Militärdienstes aufgefordert werden, sei er geflohen.

dd)        Der Beschwerdeführer zu 4. schließlich berichtete von einer sieben Monate dauernden Inhaftierung (Februar bis August 1984) wegen des Verdachts, mit den Separatisten zusammengearbeitet zu haben. Während der Haft sei er geschlagen worden. Mangels Beweisen sei er freigelassen worden. Eine weitere Inhaftierung sei ihm angedroht worden für den Fall, daß er nochmals - wis geschehen - bei Versammlungen zwischenrufe. Als er zum Militärdienst einberufen worden sei, habe er sich, als er gesehen habe, wie andere Jugendliche mit Militärautos weggebracht worden seien, zur Ausreise entschlossen.

b)         Die gegen die asylversagenden Bescheide des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge gerichteten Klagen der Beschwerdeführer waren erfolglos. Aufgrund der mündlichen Verhandlungen am 29. Juni 1989 wies sie das Verwaltungsgericht Köln ab. Zur Begründung schloß sich das Verwaltungsgericht in vollem Umfang einer Einschätzung des Oberverwaltungsgerichts Münster (Urteil vom 18. Dezember 1987-19 A 10047/87-) an, derzufolge in Äthiopien ein um Eritrea geführter Bürgerkrieg herrsche, was wie folgt begründet wurde:

''Die politischen Verhältnisse in Äthiopiens werden - soweit sie vorliegend von Bedeutung sind - gegenwärtig und in absehbarer Zukunft bestimmt durch einen im Jahre 1962 im Norden des Landes entbrannten, um die ''14. Provinz'' Äthiopiens geführten szessionistischen Bürgerkrieg. Die unter dem Namen Eritrea bekannte 14. Provinz - ein ca. 120.000 Quadratkilometer großes, von licher Volkszugehörigkeit, Sprache und Religion bewohntes, zwischen dem Sudan und Djibouti gelegenes, bis 1941 unter italienischer Kolonialherrschaft stehendes Gebiet -war im Jahre 1962 durch das seinerzeitige äthiopische Feudalregime des Kaisers Haile Selsassi unter Mißachtung einer von der UNO-Vollversammlung im Jahre 1950 beschlossenen Föderation Eritreas mit Äthiopien annektiert worden. In dem seit dieser Annexion geführten Bürgerkrieg stehen sich heute auf der elnen Seite - untereinander zum Teil zerstrittene - eritreische Befreiungsbewegungen und auf der anderen Seite ein im Jahre 1974 durce einen Putsch an die Macht gelangtes, von der Sowjetuntion unterstütztes Militärregime - an seiner Spitze der äthiopische Staatspräsident Mengistu Haile Marian - gegenüber. Die im Februar 1987 von Mengistu zur Abstimmung gestellte und von der äthiopischen Bevölkerung mit Mehrheit der registrierten Wähler angenommene neue äthiopische Verfassung, die Äthiopien als volksdemokratische Republik konzipiert, stellt zwar den äthiopischen Provinzen - also Eritrea - mehr Autonomie in Aussicht, definiert aber Äthiopien als Einheitsstaat. Die nationale Einheit ist auch nach den ErKlärungen Mengistus ''das strategische Ziel der äthiopischen Revolution''. Alle bisherigen Bemühungen, dieses Ziel auch im Hinblick auf Eritrea zu verwirklichen und durch militärische Offensiven eine Lösung des Eritrea-Problems herbeizuführung, sind indes gescheitert. Es spricht auch nichts dafür, daß eine Ende 1986 von Mengistu eingeleitete erneute ilitärische Offensive den insbesondere im Raum von Nakfa, dem Zentrum der eritreischen Volksbefreiungsfront (EPLF), unter Einsatz moderner Waffen geführten ''Grabenkrige'' beenden könnte. Ein Ende des Konflikts ist nicht in Sicht.''

Beteiligte des Bürgerkrieges seien neben des Sicherheitskräften die Personen, vorzugsweise Eritreer, die der Unterstützung der eritreischen Befreiungsbewegung verdächtig seien. Maßnahmen wie Inhaftierung, Folter und Tötung würden von den Sicherheitskräften systematisch gegen der Unterstützung der Befreiungsbewegung verdächtige Personen angewandt. Sie gehörten neben dem Einsatz von Waffengewalt gegen Kämpfer und Zivilbevölkerung zum klassischen Instrumentarium des äthiopischen Staates im Kampf gegen die sezessionistischen Bestrebungen in Eritrea. Der Einsatz erfolge mit dem Ziel, den Bürgerkrieg siegreich zu beenden. Die zweifellos ebenfalls vorliegende Zielrichtung, den jeweils Betroffenen als Träger einer mißliebigen politischen Überzeugung zu treffen, werde dabei regelmäßig von dem Bürgerkriessziel überlagert.

Zwar könne auch im Rahmen eines Bürgerkriegs eine politisch motivierte Verfolgung vorliegen. Die dafür in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts entwickelten Voraussetzungen (u.a. BverwGe 72, 269) lägen jedoch bei keinem der Beschwerdeführer vor. Namentlich könne in keinem Fall davon gesprochen werden, daß die Beschwerdeführer ''individuell in das Blickfeld der Sicherheitskräfte geraten'' seien, ''weil sie im Vorfeld der eigentlichen bewaffneten Auseinandersetzung durch politische Aktionen in besonderer Weise den Kampf für die eritreische Sache unterstuützt'' hätten. Nach allem have keiner der Beschwerdeführer vor der Ausreise aus Äthiopien politische Verfolgung erlitten, und eine solche drohe auch nicht bei einer gedachten Rückkehr. Freilich könnten alle Beschwerdeführer darauf hingewiesen werden, daß sie ungeachtet der Asylversagung Schutz vor menschenrechtswidrigen Verfolgungsmaßmahmen im Zuge des Bürgerkrieges in Anspruch nehmen könnten.

Über die für alle Beschwerdeführer geltenden Urteilsgründe hinaus merkte das Verwaltungsgericht für die Beschwerdeführerin zu 1. an, daß ihre Betätigungen für die EPLF als wahr unterstellt und Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit und die persönliche Freiheit für die Zukunft als möglich erachtet würden. Auch den Vortrag des Beschwerdeführers zu 2. unterstellte das Verwaltungsgericht als wahr, schätzte aber die Verfolgungsmaßnamen, die der Vater erlitten habe, als bürgerkriegsbedingt und dami asylirrelevant ein, was auch auf den Fall zutrreffe, daß solche Maßnahmen, wie sie der Beschwerdeführer (wohl grundlos) befürchte, auf ihn ausgedehnt würden. Beim Beschwerdeführer zu 3. fehle es, auch wenn man seinen Vortrag, den das Gericht nicht vorbehaltlos als zutreffend ansehe, zugrunde lege, im Hinblick auf seine Inhaftierung an der für eine politische Verfolgung notwendigen Intensität. Eine Einberufung zum Wehrdienst würde auf allgemeiner Wehrpflicht beruhen und nicht an individuelle merkmale und Eigenschaften anknüpfen. Im übrigen wären die Maßnahmen, die der Beschwerdeführer besorge, wenn er wegen ''seiner kulturellen Aktivitäten dem eritreischen Widerstand zugerechnet'' werde, bürgerkriegsbedingt. Letzteres nahm das Verwaltungsgericht auch im Hinblick auf den Beschwerdeführer zu 4. an, wobei es seinen Vortrag über die erlittene siebenmonatige Haft als wahr unterstellete.

c)         Die vom Verwaltungsgericht in allen Fällen nicht zugelassene Berufung suchten die Beschwerdeführer erfolglos durch Beschwerden zu eröffnen. Sie enthielten die Rüge der Abweichung von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 30. Mai 1989 - 9 C 44.88 -). Hiernach sei auch bei der Annahme eines Bürgerkriegs im Einzelfall zu prüfen, ob das staatliche Vorgehen gegen Personen, die oppositionellen Organisationen angehörten, auf die Bekämpfung der politischen Überzeugung der Betroffenen ausgerichtet sei.

Mit Beschlüssen vom 29. Juni 1989 wies das Oberverwaltungsgericht die Beschwerden zurück. Es sei bereits nicht dargelegt worden, von welchem entscheidungserheblichen Rechtssatz des Bundesverwaltungsgerichts das Verwaltungsgericht abgewichen sei. Wenn es in der von der Beschwerde angeführten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts heiße, daß der äthiopische Staat mit seinen Maßnahmen gegenüber EPLF-Mitgliedern nicht nur das Ziel verfolge, Gefahren für seinen Bestand abzuwehren, sondern auch die bei solchen Personen vorhandene abweichende politische Überzeugung treffen wolle, so stelle dies keinen Rechtssatz dar. Das Bundesverwaltungsgericht habe damit lediglich die vom Berufungsgericht in tatsächlicher Hinsicht getroffenen Feststellungen zusammengefaßt. Die Beschwerde weise auch nicht auf eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung hin. Daß unter Bürgerkriegsverhältnissen eine politische Verfolgung stattfinden könne, sei hinlänglich geklärt. Ob eine solche Verfolgung vorliege, sei aber nur in Würdigung der im jeweiligen konkreten Fall gegebenen tatsächlichen Verhältnisse zu beurteilen.

2.         Mit ihren Verfassungsbeschwerden rügen die Beschwerdeführer die Verletzung des Asylgrudrechts. Sie würden aufgrund ihrer Vorgeschichte und ihres Auslandsaufenthalts sowie wegen weiterer Einzelheiten als Regimegegner angesehen werden und müßten mit Maßnahmen von seiten der staatlichen äthiopishcen Behörden rechnen, die als politische Verfolgung zu charakterisieren seien, da sie darauf ausgerichtet sein würden, ungeachtet der Bürgerkriegssituation die politische Überzeugung der Beschwerdeführer zu treffen.

II.

Das nordrhein-westfälische Justizministerium hat von einer Stellungnahme ebenso abgesehen wie das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge und der Bundesbeauftragte tür Asylangelegenheiten.

B.

Die Verfassungsbeschwerden sind zulässig und offensichtlich begründet (§ 93b Abs. 2 Satz 1 BverfGG). Die angegriffenen Uuteile des Verwaltungsgerichts verletzen die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht aux Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG.

I.

Voraussetzung für eine vom Staat ausgehende oder ihm zurechenbare Verfolgung ist die effektive Gebietsgewalt des Staates im Sinne wirksamer hoheitlicher Überlegenheit. Daran kann es sowohl beim offenen Bürgerkrieg als auch beim Guerilla-Bürgerkrieg fehlen; dann nämlich, wenn in dem umkämpften Gebiet (oder in umkämpften Gebieten) der Staat die Gebietsgewalt verloren hat oder zunehmend verliert. Unter diesen Voraussetzungen erscheint die Bekämpfung des jeweiligen Bürgerkriegsgegners oder der Guerilla-Truppen im allgemeinen nicht als politische Verfolgung, wenn und soweit die Maßnahmen typisch militärisches Gepräge aufweisen und der Rückeroberung verlorener Gebiete bzw. der Wiederherstellung der staatlichen Friedensordnung dienen. Anderes wiederum kann gelten, wenn die Kräfte des Staates den Kampf in einer Weise führen, die auf die physische Vernichtung von auf der Gegenseite stehenden oder ihr zugerechneten und nach asylerheblichen Merkmalen bestimmten Personen gerichtet ist, obwohl diese keinen Widerstand mehr leisten wollen oder können oder an dem militärischen Geschehen nicht oder nicht mehr beteiligt sind; vollends wenn die Handlungen der staatlichen Kräfte in die gezielte physische Vernichtung oder Zerstörung der ethnischen, kulturellen oder religiösen Identität des gesamten aufständischen Bevölkerungsteils umschlagen.

Behauptet hingegen der Staat seine prinzipielle Gebietsgewalt oder erlangt er sie - trotz fortdauernden Bürgerkriegs oder Guerilla-Bürgerkriegs - in bestimmten Gebieten zurück, so besteht auch die Möglichkeit asylrelevanter politischer Verfolgung aus seiner. Überlegenheitsposition fort oder entsteht aufs neue (vgl. zum gesamten Vorstehenden: BVerfGE 80, 315 340,341>).

II.

Das Verwaltungsgericht ist nach den Gründen seiner Entscheidung - gestützt auf eine Grundsatzentscheidung des Oberverwaltungsgerichts und dort verwertete Erkenntnisquellen - für die Vergangenheit, die Gegenwart sowie die absehbare Zukunft von einem Bürgerkrieg in Eritrea zwischen Truppen des äthiopischen Staates und der eritreischen Befreiungsbewegung ausgegangen. Dagegen ist von Verfassungs wegen nichts zu erinnern; es spricht viel dafür, daß zum Entscheidungszeitpunkt ein seit vielen Jahren andauernder Bürgerkrieg als offenkundige, weil allgemein bekannte Tatsache (vgl. § 291 ZPO) anzusehen war, über die sich jedermann aus allgemein zugänglichen Quellen ohne weitere Schwierigkeiten informieren konnte. Auch unter der Voraussetzung der Offenkundigkeit des Bürgerkriegs war das Gericht jedoch nicht der Prüfung der Frage enthoben, ob und inwieweit durch die kriegerischen Handlungen des Staat im gesamten Gebiet der Provinz Eritrea oder doch jedenfalls in dem Teil, in dem die behaupteten Verfolgungshandlungen stattgefunden haben sollen und nach der Einschätzung des Gerichts auch zukünftig jedenfalls nicht unwahrscheinlich wären, seine Gebietsgewalt bereits ganz oder doch weitgehend verloren und auch nicht wiedergewonnen hatte oder wiederzuerlangen erwarten konnte. Feststellungen über die Gebietsgewalt des äthiopischen Staates im Hinblick auf die Provinzhauptstadt Asmara und deren Umgebung enthalten die angegriffenen Urteile des Verwaltungsgerichts ebensowenig wie das Urteil des Oberverwaltungsgerichts, dessen Gründe sich das Verwaltungsgericht zu gigen gemacht hat. Es ist dort lediglich von einer militörischen Offensive im Raum von Nakfa, dem nördlich von Asmara gelegenen "Zentrum der eritreischen Befreiungsfront", die Rede. Daraus wird man ableiten können, daß die äthiopische Regierung in und um Nakfa die Gebietsgewalt in einem Maße verloren hatte, daß sie dort nurmehr die Rolle einer militärisch kämpfenden Bürgerkriegspartei einnahm, als übergreifende effektive Ordunugsmacht aber nicht mehr bestand. Mit dieser Feststellung ist jedoch noch nichts darüber ausgesagt, wie es sich in Asmara verhalten hat und verhalten wird. Dort könnten die Verhältnisse durchaus noch so beschaffen sein, daß die Zentralgewalt als gebietsmächtig und damit auch als verfolgungsmächtig einzuschätzen wäre. Genaueres hierzu läßt sich den vom Oberverwaltungsgericht herangezogenen Erkenntnisquellen nicht entnehmen:

Zwar enthält die Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 15. März 1987 die Aussage, daß "jeder Bewohner dieser Krisengebiete" (nördliche Prvinzen Eritrea, Tigre, Wolo) von den Kämpfen "gleich betroffen" sei. Sie wird jedoch bereits von der zugleich geäußerten Einschätzung relativiert, die Kämpfe würden mit "wechselnder Intensität geführt". Ein aux Asmara berichtender Korrespondent (FAZ vom 22. April 1987) beschreibt die Stadt mit ihren ca. 350.000 Einwohnern zwar als "im Krieg" befindlich, hebt aber auch eine in der Stadt anzutreffende "Fröhlichkeit" hervor und beurteilt die Fähigkeiten der EPLF-Guerilleros mit dem Satz "Sie können Straßentransporte überfallen, auch hier und da ein Dorf oder eine kleine Stadt einnehmen". Dem entspricht die Aussage in der Zeitschrift Internationales Afrikaforum, 1986, S. 51, daß nach den Plänen der Regierung "die Hauptstadt Asmara unter direkter Kontrolle der Regierung verbleiben soll." Die weiteren Erkenntnisquellen, die von den Gerichten herangezogen wurden, sind für die vorliegend entscheidenden Fragen undergiebig.

Mangelt es nach allem gesicherter Feststellungen etwa des Inhalts, daß auch in Asmara sich die dort operierenden staatlichen Kräfte mit derart starken oder gar überlegenen gegnerischen kräften auseinanderzusetzen hatten und haben würden, daß die staatliche Friedensordnung dort prinzipiell als aufgehoben beurteilt werden mußte (vgl. BverfGE, a.a.O. 349>), und sind auch keine offensichtlichen Umstände ersichtlich, die einen Rückschluß darauf zuließen, daß eine erneute, verfassungsgemäße Rechtsanwendung mit Sicherheit wiederum zum Nachteil der Beschwerdeführer ausfallen müßte (vgl. BverfGE 35, 324 344>), so sind die angegriffenen Urteile gemäß § 95 Abs. 2 BverfGG aufzuheben und die Sachen an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen. Die vom Verwaltungsgericht angenommene Gefahr der Tötung, der Folter und der Inhaftierung von tatsächlichen oder mutmaßlichen Sympathisanten der Befreiungsbewegung wäre unter der Voraussetzung der Gebietsmächtigkeit des Staates nicht von vornherein ungeeignet, den Beschwerdeführern zur Asylberechtigung zu verhelfen (vgl. BverfGE 80, 315 334 ff.>). Sollte das Verwaltungsgericht bei einer erneuten Prüfung zu einer vergleichbaren Prognose und zu einem zumindest partiellen Verlust der Gebietsgewalt in Asmara durch den äthiopischen Staat gelangen, so würde es, sofern es auch keine verfolgungsfreien Gebiete in Eritrea oder im gesamten Staat Äthiopien auszumachen vermag (vgl. BverfGE 81, 58 65 f.>), weiterhin prüfen müssen, ob die staatlichen Kräfte den Bürgerkrieg bzw. Guerilla-Bürgerkrieg in einer Weise führen, die den hiervon Betroffenen gleichwohl zu einer Asylberechtingung verhelfen kann (vgl. BverfGE 80, 315 340>). Durch die Aufhebung und Zurückverweisung werden die Beschlüsse des Oberverwaltungsgerichts über die Nichtzulassung der Berufung gegenstandslos.

III.

Die En tscheidung über die notwendigen Auslagen beruht auf § 34a Abs. 2 BverfGG.

Böckenförde

Kruis

Franßen

 

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