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Khalil ist Familienvater. Doch für vier lange Jahre war er von seiner Frau und den vier minderjährigen Kindern getrennt. Die Geschichte von Khalil steht stellvertretend für unzählige Familien, die durch Konflikte und Verfolgung getrennt wurden und alles tun, damit sie wieder als Familie zusammenleben können.
Obwohl das Recht auf Familieneinheit national und international verankert ist, sehen sich Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommene mit zahlreichen rechtlichen und administrativen Hürden konfrontiert, wenn sie ihre Familie in die Schweiz holen möchten.
Die Geschichte der Familie beginnt im Jahr 2006, als Khalil* und seine Frau Amena* in Qamischli, der grössten Stadt des kurdischen Autonomiegebiets Rojava, heiraten. Das Paar hat vier Kinder, zwei Mädchen und zwei Jungen. Der Bürgerkrieg zwingt Khalil zur Flucht. Er möchte weder in den syrischen Wehrdienst eingezogen werden noch an Seiten der syrischen Kurdenmiliz YPG kämpfen. Seine Frau und die vier minderjährigen Kinder bleiben in Qamischli zurück und leben in prekären Verhältnissen, da die Reise für sie zu riskant ist.
Auflagen und Wartefristen
Am 10. August 2020 reist Khalil in die Schweiz ein und stellt ein Asylgesuch. Im September wird ihm eine vorläufige Aufnahme gewährt. Sein erstes Ziel ist es, so schnell wie möglich wieder mit seiner Frau und seinen Kindern vereint zu sein. Er nimmt Kontakt mit den Jurist*innen von elisa-asile auf, die ihm die Bedingungen für die Familienzusammenführung erläutern. Als Inhaber einer F-Bewilligung muss er finanziell unabhängig sein und eine Wartefrist von drei Jahren einhalten.
“Obwohl vorläufig aufgenommene Personen einen vergleichbaren Schutzbedarf wie anerkannte Flüchtlinge haben, sind sie gegenüber anderen Schutzberechtigten stark benachteiligt. Diese Situation ist für die betroffenen Personen schwer nachvollziehbar und belastend”, erzählt Najma Hussein, Juristin von elisa-asile. “In unserer täglichen Arbeit spielen daher neben den juristischen Aspekten auch die psychosozialen Aspekte eine entscheidende Rolle, um unsere Mandant*innen in dieser schwierigen Phase beizustehen”.
Hoffnung auf ein Wiedersehen
Über die Wartefrist besorgt, erwägt Khalil die Einreichung eines Antrags auf ein humanitäres Visum. Elisa-asile kontaktiert die Fachstelle Familiennachzug des Schweizerischen Roten Kreuz, aber hier schätzt man die Erfolgsaussichten auf nahezu null. Tatsächlich werden die Gesuche und wiederholten Rekurse, die Khalil einreicht, abgelehnt.
Unterdessen finden im Nordosten Syriens, wo seine Frau und seine Kinder leben, schwere Kämpfe statt. Während mehreren Tagen bricht der Kontakt zu ihnen ab. Die Verschlechterung der Lage bereitet Khalil grosse Sorgen. “Während der Trennung von meiner Familie fühlte ich mich verloren. Ohne sie konnte ich mir nichts aufbauen”, erzählt Khalil. Trotzdem besucht er weiterhin seinen Französischkurs, um sich rasch in der Schweiz zu integrieren. Mit viel Einsatz und Ausdauer gelingt es ihm, eine feste Anstellung zu finden, die es ihm ermöglicht, finanziell unabhängig zu sein. So kann elisa-asile einen Antrag auf Familienzusammenführung stellen, der fünf Monate später bewilligt wird.
Wiedersehen in Genf
UNHCR berät und begleitet die Familie beim administrativen Verfahren bezüglich der Ausreise aus dem Land, der Einreise in den Libanon und der Überprüfung der erforderlichen rechtlichen Dokumente. Amena und die Kinder treffen Anfang Oktober 2023 am Flughafen Genf wieder mit dem Vater zusammen.
“Das Gefühl, uns als Familie wiederzusehen, war unbeschreiblich”, sagt Khalil rückblickend. “Die Verzweiflung wich einem Gefühl der Lebendigkeit, der Freude, des Glücks und der Sicherheit”, Amena fügt hinzu: “Es war ein kostbarer, unvergesslicher Moment. Ich bin unendlich dankbar”.
Nun sind Khalil und seine Familie seit einem guten halben Jahr wieder vereint. “Was wir heute fühlen, umfasst alles, wonach wir uns während der ganzen Zeit der Trennung gesehnt haben: familiäre Stabilität und Sicherheit. Kurz gesagt, wir haben das Gefühl, dass wir wirklich leben”, erzählt Khalil.
*Namen geändert
Neue Wege für vorläufig aufgenommene Personen in der Schweiz
Für Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommene, die auf der Flucht von Familienmitgliedern getrennt wurden, ist die Wiedervereinigung mit ihren Angehörigen der erste Schritt zurück in ein normales Leben und zur erfolgreichen Integration. Die Bedeutung der Familie und die Notwendigkeit diese zu schützen ist universal anerkannt und fest im nationalen und internationalen Recht verankert. Familienzusammenführung beruht also auf einem grundlegenden Rechtsanspruch. Sie ist aber auch ein Mittel zum Flüchtlingsschutz, da sie verhindert, dass Familienmitglieder gefährliche und irreguläre Wege benutzen müssen, um wiedervereint zu sein.
Laut dem Bund haben zwischen 2018 und 2022 pro Jahr durchschnittlich 333 Personen mit vorläufiger Aufnahme ein Gesuch um Familiennachzug gestellt, wovon aber nur 126 bewilligt wurden. Der Bundesrat hat kürzlich beschlossen, die Wartefrist für vorläufig aufgenommene Personen von drei auf zwei Jahre zu verkürzen. Diese Regelung beruft sich auf ein Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs (EGMR) in Strassburg und soll sicherstellen, dass das Recht auf Familienleben gemäss Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtserklärung (EMRK) gewahrt ist.
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