UNHCR ruft die Parteien und Kandidierenden im Bundestagswahlkampf 2021 dazu auf, mit Nachdruck für die Prinzipien des Flüchtlingsschutzes in Deutschland, Europa und der Welt einzutreten. Vier Ansätze sind dabei aus Sicht von UNHCR zentral, um das System des Flüchtlingsschutzes zu stärken. 

Die Genfer Flüchtlingskonvention war historisch die Antwort darauf, dass Millionen Menschen vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg Folter, Misshandlungen und Verfolgung schutzlos ausgeliefert waren. Vielen wurden Rechte und der Zugang zu Schutz in anderen Ländern verwehrt. Mit der Konvention verpflichteten sich Staaten, Flüchtlinge nicht an ihren Grenzen zurück- oder abzuweisen und ihnen Zugang zu Schutz außerhalb der Grenzen ihres Heimatlandes zu ermöglichen. Diese Verpflichtung gilt bis heute und ist auch europarechtlich verankert.

Flüchtlingsschutz ist rechtliche Verpflichtung und moralische Pflicht. Das ausdrückliche Bekenntnis zur Genfer Flüchtlingskonvention und das aktive Eintreten für ihre Werte und die mit ihr verbrieften Rechte muss daher Ausgangspunkt aller flüchtlingspolitischen Überlegungen sein. Das bedeutet in der Praxis, den Zugang zu Schutz sicherzustellen und auszuweiten.

Doch dieser einfache Grundsatz und Kern des Flüchtlingsschutzes wurde in den Hintergrund gedrängt. In den vergangenen Jahren stand Flüchtlingspolitik in der öffentlichen Debatte häufig im Zeichen des Managements von Migrationsbewegungen und wurde unter Aspekten der Missbrauchsbekämpfung und von Gefahrenabwehr erörtert und wahrgenommen.

Es sollte Teil des beherzten Eintretens für die Prinzipien der Genfer Flüchtlingskonvention sein, die Erfolge im Flüchtlingsschutz in Deutschland im öffentlichen Diskurs stärker zu betonen. Unterschiedlichste Menschen engagieren sich hierzulande ehren- oder hauptamtlich für Schutzsuchende. Dafür gibt es unzählige Beispiele, die der Motivation und dem Einsatz sehr vieler Menschen in Deutschland ein Gesicht geben würden. Diese positiven Errungenschaften der letzten Jahre gilt es wieder verstärkt ins Bewusstsein zu rufen und ihnen öffentlich stärker Rechnung zu tragen.

Doch nicht nur Einheimische tragen dazu bei, dass Integration gelingen kann. Das positive Engagement um die Integration könnte noch effektiver gestaltet werden, indem schutzbedürftige Menschen stärker eingebunden werden und den Integrationsprozess aktiv mitgestalten können. Partizipation stärkt den gegenseitigen Respekt.

Aus unterschiedlichen Teilen der Gesellschaft gibt es breite Unterstützung für eine bessere Flüchtlingspolitik. Diese Dynamik sollte in politischem Handeln münden. Die Parteien haben hier in ihren Wahlkampagnen eine besondere Verantwortung. Sie können immer wieder aktiv das Verständnis für die Situation von Flüchtlingen und ihre Beweggründe, in einem anderen Land Schutz zu suchen, fördern. Dies gilt ebenso für das große Engagement zugunsten von Flüchtlingsschutz und Integration. Mehr Bewusstsein für den Schutzgedanken der Genfer Flüchtlingskonvention erweitert die Offenheit für Flüchtlinge und stellt flüchtlingspolitische Entscheidungen auf eine breitere Basis.

Ende 2019 waren fast 80 Millionen Menschen auf der Flucht – mehr als ein Prozent der Weltbevölkerung. Viele von ihnen leben seit Jahren oder Jahrzehnten in Aufnahmeländern mit geringen oder mittleren Einkommen. Die Corona-Pandemie hat die Situation für viele dieser Menschen drastisch verschärft und humanitäre Bedarfe zusätzlich in die Höhe getrieben. Gleichzeitig sind viele Hilfspläne für Flüchtlingssituationen bestenfalls zur Hälfte finanziert.

Mit dem Globalen Pakt für Flüchtlinge hatte sich die Weltgemeinschaft 2018 zum Ziel gesetzt, Flüchtlinge und Aufnahmeländer so zu unterstützen, dass sie dort eine Perspektive haben. Dies erfordert mehr Solidarität im Umgang mit Flüchtlingen und eine gezieltere internationale Zusammenarbeit mit den Aufnahmeländern.

 

Deutschland hat in diesem Sinne in den vergangenen Jahren zunehmend globale Verantwortung im Flüchtlingsschutz übernommen. Als zweitgrößter humanitärer Geber und als fünftgrößtes Aufnahmeland von Flüchtlingen genießt Deutschland internationale Glaubwürdigkeit in diesem Bereich. Dieses Gewicht gilt es in Anbetracht der globalen Entwicklungen zu nutzen.

Gerade die Pandemie hat noch einmal verdeutlicht, dass multilaterale Zusammenarbeit von Staaten der Schlüssel zur Lösung grenzüberschreitender Probleme und Herausforderungen ist. Das gilt für den Klimawandel genauso wie für Flüchtlingsschutz und humanitäre Hilfe. Die steigende Zahl von Menschen in Not und unvorhersehbare Krisen, wie die Corona-Pandemie, verdeutlichen, wie notwendig die verlässliche und flexible Finanzierung humanitärer Organisationen ist.

Die Hilfe für Flüchtlinge und Aufnahmeländer muss über die Linderung akuter Not hinausgehen. Große, langanhaltende Flüchtlingskrisen brauchen die sinnvolle Verzahnung von humanitärer Hilfe und längerfristigen Entwicklungsmaßnahmen. Deutschland ist auch im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit einer der wichtigsten Akteure.

Die gezielte entwicklungspolitische Unterstützung von Ländern, die vielen Flüchtlingen Schutz bieten, kann Aufnahmegemeinschaften entlasten und zur Inklusion von Flüchtlingen beitragen. So können zum Beispiel Investitionen für ein besseres Gesundheits- und Bildungswesen sowohl Flüchtlingen als auch der lokalen Bevölkerung zugutekommen. Ein solcher Ansatz ist nicht nur Ausdruck internationaler Verantwortungsteilung, sondern bietet Flüchtlingen eine wirkliche Perspektive im Aufnahmeland.

Ein effizientes und faires Gemeinsames Europäisches Asylsystem (GEAS) wäre eine nachhaltige Stärkung der praktischen Umsetzung der Genfer Flüchtlingskonvention in der Europäischen Union. Die Bundesregierung setzt sich auf europäischer Ebene nachdrücklich für eine Reform des GEAS ein. Eine tragfähige politische Lösung in grundlegenden Punkten bleibt eine Aufgabe für die Zukunft.

Eine  Einigung auf ein effizientes und faires europäisches Asylsystem muss auf den Grundfesten der Genfer Flüchtlingskonvention ruhen und den spontanen Zugang zum Flüchtlingsschutz in der Europäischen Union durch faire und effiziente Asylverfahren sicherstellen.

Schutzsuchende Menschen ohne Zugang zu einer Prüfung ihres Schutzbedarfs an der EU-Außengrenze zurückzuweisen oder zurückzuschieben, verletzt die Verpflichtungen aus der Genfer Flüchtlingskonvention und ist völkerrechtswidrig. Das Verbot von Refoulement, also von Abschiebung oder Rückweisung in Situationen, in denen schwere Menschenrechtsverletzungen drohen, ist die zentrale Garantie aus der Genfer Flüchtlingskonvention und muss Maßstab der europäischen Flüchtlingspolitik bleiben.

Die Verantwortung für die Schutzsuchenden und Schutzberechtigten sollte von mehr als einigen wenigen Staaten geteilt werden und auch nicht auf Drittstaaten außerhalb der Europäischen Union abgewälzt werden. Ein fairer, solidarischer und tragfähiger Verteilungsmechanismus, der die überproportionale Belastung der Staaten an den EU-Außengrenzen verhindert, darf in den weiteren Verhandlungen zum GEAS nicht aus dem Blick geraten. Damit die Verteilung innerhalb der EU nachhaltig ist, bedarf es in einem solchen europäischen System konkreter Anreize für Asylsuchende und EU-Mitgliedsstaaten. Verteilentscheidungen müssen familiäre Bindungen vorrangig berücksichtigen. Im zugewiesenen Land sollten die Asylverfahren durchgeführt werden und Personen mit Schutzstatus nach einem überschaubaren Zeitraum Freizügigkeit innerhalb der EU unter den üblichen Voraussetzungen ermöglicht werden.

Die Arbeit am GEAS ist nicht nur für das Schutzsystem auf dem europäischen Kontinent wichtig. Wie die Europäische Union mit den handhabbaren Ankunftszahlen von Flüchtlingen und Asylsuchenden umgeht, und ob sie auf der Grundlage der Prinzipien des internationalen Flüchtlingsrechtes  handelt, sendet ein Signal an große Aufnahmeländer in der ganzen Welt. Damit strahlt europäisches Handeln erheblich auf die Stabilität und Kontinuität des globalen Flüchtlingsschutzes aus.

Familien wieder zusammenzuführen, die durch, vor oder während ihrer Flucht auseinandergerissen wurden, ist fester Bestandteil der Standards des internationalen Flüchtlingsschutzes.

Enge Familienangehörige, die sich noch in Herkunftsländern aufhalten, sind häufig in gleicher Weise von schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen bedroht wie ihre bereits in Deutschland angekommenen Familienmitglieder. Ist die Flucht auch den Familienmitgliedern gelungen, befinden sie sich oftmals in prekären Situationen in Erstzufluchtsstaaten. In beiden Fällen ist die Sorge um Kinder, Eltern oder Ehepartner eine große seelische Belastung, die Integrationsprozesse verzögern kann. Zudem sehen sich Familienangehörige im Ausland ohne zügig umsetzbare Nachzugsmöglichkeiten häufig gezwungen, gefährliche und irreguläre Fluchtwege in Kauf zu nehmen, um zu ihren Familienmitgliedern in Deutschland zu gelangen.

Daher gilt es, allen Personen mit internationalem Schutzstatus ein Recht auf Nachzug zumindest der Kernfamilie einzuräumen. Auch müssen Verwaltungsverfahren so ausgestaltet sein, dass der Familiennachzug zügig umgesetzt und nicht durch bürokratische Hürden verzögert wird.

Die Aufnahme von besonders schutzbedürftigen Flüchtlingen (Resettlement) ist in den vergangenen Jahren durch ein Bundesprogramm deutlich ausgebaut worden. Einige Bundesländer engagieren sich darüber hinaus mit eigenen Programmen. Zudem ist das deutsche NesT-Programm („Neustart im Team“) zur privat geförderten Aufnahme innerhalb Europas ein Leuchtturmprojekt.

Diese sehr positiven Ansätze gilt es weiterzuführen und auszubauen. Nachdem 2020 und bisher auch 2021 die Umsetzung der Programme durch die globale Pandemie stockte, kann Deutschland in den nächsten Jahren durch höhere Aufnahmezahlen und die Ausweitung der Programme ein weltweites Signal für den Schutz von Flüchtlingen setzen, die in Erstaufnahmeländern etwa nicht sicher sind oder nicht hinreichend medizinisch versorgt werden können. Die Bereitschaft dafür ist da – in der Zivilgesellschaft, in Kommunen und in einigen Bundesländern. Angesichts der in den vergangenen Jahren gesunkenen globalen Bereitschaft zur Aufnahme besonders gefährdeter Flüchtlinge wäre das eine wichtige Ergänzung des Systems des spontanen Schutzes und im Sinne einer Flüchtlingspolitik, die auf Solidarität und Verantwortungsteilung  beruht.