Robina, was bedeutet Bildung für Mädchen in Afghanistan?
Robina, was bedeutet Bildung für Mädchen in Afghanistan?
Robina Azizi hatte nur noch wenige Tage, bevor sie das erste Halbjahr der zehnten Klasse abschließen würde. Sie war schon immer ehrgeizig und wollte die besten Noten ihrer Klasse nach Hause bringen.
Doch alles kam anders: Anstatt ihr Abschlusszeugnis in den Händen zu halten, musste Robina innerhalb weniger Stunden ihre notwendigsten Dinge zusammensuchen und mit ihrer Familie aus der Region fliehen, in der sie lebte. Denn die Taliban drohten, die Provinz Balkh zu erobern.
„Ich wollte nicht weg, meine Abschlussprüfungen standen doch so kurz bevor“, erinnert sich Robina.
Die Familie flog nach Kabul, Afghanistans Hauptstadt, weil sie hofften, dort in Sicherheit zu sein. Damals erschien es ihnen undenkbar, dass die Taliban auch hier die Macht übernehmen könnten.
Schreiben gibt Robina eine Stimme – aber bringt sie auch in Gefahr
Robina, die zu diesem Zeitpunkt 15 Jahre alt war, hatte bereits mehrere Schreibwettbewerbe gewonnen. Worum es in ihren Texten ging? „Um Krieg natürlich. Und wie es mir als Mädchen in diesem Land ging“, erklärt Robina. Und weiter: „Ich fühlte mich, als könnte ich mit den anderen nicht über die Bedrohung durch die Taliban sprechen. Also schrieb ich meine Gedanken auf.“
„Bei den Preisverleihungen waren dann fast nur Erwachsene: Studenten, Journalisten und so. Und jeder erwartete, dass der Gewinner ein erwachsener Mann sein würde. Sie waren ganz schön überrascht, als dann ein junges Mädchen auf der Bühne stand,“ lacht sie.
Robina war schon immer ehrgeizig. In der Schule brachte sie anderen Mädchen Englisch bei, wenn der Unterricht ausfiel.
Ihre Texte brachten Robina Anerkennung, machten sie aber zugleich zur Zielscheibe für die Taliban. Und auch der Rest der Familie war gefährdet: Robinas Schwester arbeitete als Journalistin und ihr Vater für die Regierung. Sie mussten also so schnell es ging weg.
In Kabul angekommen, kam die Familie bei Verwandten unter und hielt sich dort versteckt.
„Wir kamen fünf Tage, bevor die Taliban die Macht übernahmen, in Kabul an. Und ich erinnere genau, wie ich dort jeden Tag am Fenster stand und die Mädchen auf der Straße beobachtete, wie sie zur Schule gingen. Es war so hart für mich“, erinnert sich Robina. Sie konnte sich keine Zukunft ausmalen, ohne Schule, und verlor langsam die Hoffnung.
„Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen, als die Taliban Kabul übernahmen. ‚Was jetzt‘, fragte ich mich immer wieder.“
Nach Monaten in Isolation fing Robina an, Englischunterricht zu nehmen. Auf dem Weg dahin trug sie einen Hijab, um nicht erkannt zu werden. Außerdem schrieb sie sich bei Online-Kursen ein.
Zu der Zeit gab Robina Fernsehinterviews, um anderen Mädchen Mut zu machen.
Wieder lernen zu dürfen, war für sie ein Lichtblick. Robina schöpfte neue Hoffnung und half ihren alten Schulfreundinnen, E-Mail-Adressen anzulegen, damit sie ebenfalls an Online-Kursen teilnehmen konnten.
„Wir haben unsere Bildung online fortgesetzt, weil das der einzige Ort war, der uns noch offenstand“, sagt Robina.
Bildung – heimlich aus dem Wohnzimmer
Ihre Bemühungen, Mädchen beim Zugang zu Online-Klassen zu unterstützen, wurden immer systematischer. Schließlich gründete sie ihre eigene Initiative: Girls on the Path of Change. Die Organisation bringt Lehrkräfte und Schülerinnen virtuell zusammen.
Doch die Situation der Familie in Kabul wurde immer unsicherer. Sie entschieden sich, alles aufzugeben und nach Pakistan zu fliehen. Dort bewarben sie sich für ein humanitäres Aufnahmeprogramm der deutschen Bundesregierung, von dem Robinas Schwester durch andere Journalistinnen gehört hatte.
„Und dann bekamen wir die E-Mail. Das hat unser Leben gerettet“, erinnert sich Robina und muss mit den Tränen kämpfen.
Aufbruch in ein fremdes Land
„Ich wusste rein gar nichts über Deutschland. Im Nachhinein frage ich mich, warum ich damals nicht schon ein bisschen recherchiert habe.“ Aber trotzdem ist sie sich von Anfang an sicher: „Ich habe mir gleich gesagt, dass Deutschland vielleicht der Ort ist, wo wir bleiben können.“
Robina, ihre Eltern und Geschwister werden gemeinsam mit anderen afghanischen Familien von Islamabad nach Berlin geflogen. Von dort aus geht es für sie weiter nach Köln.
„Viele sagen immer, dass sie Hauptstädte am spannendsten sind. Aber ich bin sehr froh, dass wir in Köln gelandet sind“, sagt Robina. Die Leute seien dort irgendwie besonders nett. Und deutsche Freunde hat sie auch schon gefunden. „Die sind wirklich super, wir machen Ausflüge zusammen und sie gehen mit mir zu jedem Schloss, das ich besichtigen will“, schmunzelt die 19-Jährige.
Doch war das Ankommen in Deutschland nicht einfach. „Flüchtling zu werden ist nichts, was wir uns jemals ausgesucht haben“, so Robina. In Deutschland muss die Familie wieder komplett von vorne anfangen. Robina ist die Einzige von ihnen, die fließend English spricht, und fühlt eine zusätzliche Verantwortung auf ihren Schultern, sich um alle Behördengänge zu kümmern.
„Wie viele Flüchtlinge, die neu in einem fremden Land ankommen, ist es nicht einfach für uns. Vieles ist kompliziert und sehr fremd“, erklärt sie.
Ein Kampf für die anderen
Robina hat schon unglaublich viel erleben - und entbehren - müssen. Erst recht, wenn man ihr Alter bedenkt, in dem andere eher an Freunde, Abitur und Partys denken. Doch das hat sie nur entschlossener gemacht. Ihre Organisation ist mittlerweile so gewachsen, dass Tutorinnen und Tutoren aus aller Welt Klassen anbieten. Tausende Schülerinnen konnten sich laut Robina bereits einschreiben. Außerdem hat sie in Deutschland noch ein weiteres Projekt gestartet, dass Flüchtlinge und Einheimische zusammenbringen soll.
Robina hat für ihr Engagement bereits mehrere Auszeichnungen bekommen.
„Jetzt bin ich hier in Deutschland und ich habe die Möglichkeit, weiter zu lernen. Bildung bedeutet, die Chance zu haben, sich ein eigenes Leben aufzubauen. Und ich habe hier viele Freiheiten. Anders als die Mädchen in Afghanistan. Es ist also meine Verantwortung, mich von hier aus für sie stark zu machen“, sagt Robina.