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Vom Mut Menschen willkommen zu heißen - Solidarität in einer geteilten Welt

Reden und Stellungnahmen

Vom Mut Menschen willkommen zu heißen - Solidarität in einer geteilten Welt

In einer seiner letzten öffentlichen Ansprachen vor dem Abschied blickt UN-Flüchtlingshochkommissar Filippo Grandi auf ein Jahrzehnt weltweiter Vertreibung zurück – und erinnert die Welt an ihre Verantwortung
20. November 2025
Symbolbild-UNHCR

Symbolbild eines Umschlages für Meldungen, zu denen es kein Bildmaterial gibt. 

Guten Abend, liebe Freundinnen und Freunde, und vielen Dank, Herr Dekan, für diese herzliche Einführung. Und danke Ihnen allen fürs Kommen. Es ist ein Privileg, eine Ansprache in einem so wirklich großartigen und historischen Rahmen halten zu dürfen.
Ich danke Ihnen von Herzen für diese Ehre.

Ich komme aus einem Land, das mit Kirchen vertraut ist – im Guten und (manchmal) im Schlechten, das ist tief in unserer Geschichte, fast in unseren Genen verankert. All dies soll sagen: So sehr sich die Westminster Abbey von italienischen Kirchen unterscheiden mag, so gibt es doch eine tröstliche Vertrautheit, hier zu sein. Vielleicht die Vertrautheit, die alle Gotteshäuser ausstrahlen.

Und in dieser Vertrautheit liegt eine einfache, aber kraftvolle Idee: Dass wir über geografische Grenzen hinweg, über Sprache und Kultur hinweg, im Fremden das Vertraute finden können.

Der Mut, das Vertraute im Fremden zu finden.
Das ist die Idee, über die ich heute Abend sprechen möchte, denn mit Geflüchteten zu arbeiten – das ist die Aufgabe meiner Organisation, und meine seit vielen Jahren – bedeutet, Fremde willkommen zu heißen. Es bedeutet zu akzeptieren – und das erfordert tatsächlich etwas Anstrengung, etwas Mut –, dass ein Teil von uns sich in anderen widerspiegelt, und dass andere einen Teil von sich in uns erkennen. Das ist nicht leicht, und natürlich gilt das nicht nur für humanitäre Helferinnen und Helfer, sondern ist eine Erinnerung an uns alle.

Papst Franziskus sprach von einer gemeinsamen Brüderlichkeit – fratelli tutti. Ein früherer Dekan von Westminster, Edward Carpenter, sprach von einem „einzigen Volk“ – daher der Titel dieser Rede. Und wir sahen vor wenigen Wochen ein wunderbares Beispiel dieses Geistes, als Seine Majestät König Charles und Papst Leo Seite an Seite in der Sixtinischen Kapelle beteten. Ein feierlicher Moment, der zeigte, dass Menschen trotz aller – in diesem Fall sehr alten – Spaltungen dennoch vereint sein können.

Natürlich bieten nicht alle Kontexte ähnlichen Good Will und sie ziehen auch nicht die gleiche Aufmerksamkeit auf sich. Meine Kolleginnen und Kollegen und ich arbeiten in einigen solcher Kontexte – dort, wo das Bekenntnis zu Solidarität und Einheit stärker – manchmal grausam – auf die Probe gestellt wird.

Geflüchtete überschreiten internationale Grenzen; wir befinden uns also sofort in einer Situation, in der zwei Länder – und zwei verschiedene Bevölkerungen – beteiligt sind, manchmal auch mehrere. Auf der einen Seite stehen Geflüchtete – Menschen, die vor Krieg, Gewalt und Verfolgung fliehen mussten – und auf der anderen die Länder und Gemeinschaften, in denen sie Schutz suchen. Unser Bekenntnis zur Solidarität gebietet, dass Menschen, die vor Gefahr fliehen, nicht zurückgewiesen oder ihrem Schicksal überlassen werden dürfen.

Das Prinzip, den Fremden in Not aufzunehmen und zu schützen, ist so alt wie die Zivilisation selbst. Es ist ein zentrales Element in Kulturen und heiligen Schriften weltweit. In der monotheistischen Tradition ist es besonders präsent – man denke an den Exodus, die Flucht nach Ägypten, die Hidschra. Oder an die Rolle von Gotteshäusern wie diesem, die über Jahrhunderte hinweg Verfolgten Zuflucht boten. Asyl zu gewähren ist eine Geste, die tief in allen Kulturen und in der menschlichen Seele verankert ist.

Die Geschichte zeigt allerdings, dass dieses Prinzip nicht immer respektiert wurde – etwa als während des Zweiten Weltkriegs viele Geflüchtete, insbesondere Jüdinnen und Juden, zurückgewiesen oder ihrem Schicksal überlassen wurden. Das war einer der Gründe, warum nach dem Krieg ein formelles Asylsystem geschaffen wurde.

Nach 1945 einigten sich die Staaten darauf, dieses Prinzip im Völkerrecht zu verankern. Aufbauend auf früheren Bemühungen, einschließlich denen des Völkerbunds, schufen sie schließlich UNHCR – meine Organisation – und verabschiedeten 1951 die Genfer Flüchtlingskonvention, die eine Reihe von Rechten und Verantwortlichkeiten gegenüber Flüchtlingen festlegt. Dazu gehört in Artikel 33 das Verbot der zwangsweisen Rückführung in das Herkunftsland, wo Flüchtlingen Gefahr drohen könnte – das sogenannte Non-Refoulement-Prinzip.

Im Laufe der Zeit haben viele Staaten diese internationalen Verpflichtungen in nationales Recht umgesetzt. Parallel dazu entwickelte sich seit den 1950er-Jahren der internationale Rechtsrahmen für Asyl weiter. 1967 wurde ein Protokoll zur Konvention verabschiedet, das einige zeitliche und geografische Beschränkungen aufhob. Regionale Rechtsinstrumente entstanden, um regionalen Gegebenheiten Rechnung zu tragen – die OAU-Flüchtlingskonvention von 1969 in Afrika, die Cartagena-Erklärung von 1984 in Amerika oder der Europäische Asyl- und Migrationspakt, der erst letztes Jahr verabschiedet wurde. Die Grundlage für all diese Instrumente ist die Genfer Flüchtlingskonvention.

Die grundlegenden Prinzipien des Asyls haben sich daher nicht geändert – sie sind heute ebenso gültig wie 1951 –, aber ihre Anwendung hat sich weiterentwickelt. Und sie musste sich weiterentwickeln, angesichts der geopolitischen Veränderungen der letzten 75 Jahre, Entkolonisierung, Fall der Sowjetunion, wachsende Auswirkungen des Klimawandels, und angesichts der zunehmenden Komplexität von Fluchtbewegungen.

Die Realität ist: Mit der Entstehung neuer Staaten und veränderten globalen und regionalen Machtverhältnissen hat sich der Umfang und die Natur erzwungener Vertreibung ebenfalls verändert. Die Zahl der gewaltsam Vertriebenen hat sich im letzten Jahrzehnt verdoppelt – aktuell sind es 117 Millionen. Dazu gehören sowohl Menschen, die ihr Zuhause, aber nicht ihr Land verlassen haben – Binnenvertriebene – als auch Flüchtlinge, die über die Grenzen ihres Heimatlandes flüchten mussten. Es vermittelt jedenfalls ein Gefühl für die Größe der Herausforderung – und für die schwierigen, ja beängstigenden Zeiten, in denen wir leben. Wir hier, in relativer Stabilität, blicken mit Sorge darauf; für Millionen ist es tägliche Realität.

Gewaltsame Vertreibung betrifft alle Regionen, weil Krieg und Gewalt alle Regionen betreffen. Laut Internationalem Komitee vom Roten Kreuz gibt es derzeit 130 aktive Konflikte weltweit. Sie bilden gewissermaßen einen „dezentralisierten Weltkrieg“, der in vielen Teilen des Planeten stattfindet. Manche davon kennen wir alle – Ukraine oder Gaza zum Beispiel, über die aus gutem Grund ausführlich berichtet wird, angesichts der verheerenden Auswirkungen auf die Menschen dort. Aber es gibt viele andere Konflikte, über die kaum gesprochen wird – Sudan, Myanmar, die Sahelzone, Jemen und weitere –, die ebenso Menschen unaufhaltsam in die Flucht treiben.

Und wir sind nicht nur unfähig geworden, Konflikte zu verhindern oder zu beenden – man betrachte die enttäuschende Bilanz des UN-Sicherheitsrats –, wir haben auch zugelassen, dass Kriege von hemmungsloser Gewalt gegen Zivilistinnen und Zivilisten geprägt sind, von der völligen Missachtung des humanitären Völkerrechts. Im vergangenen Monat in Gaza, in der vergangenen Woche in El Fasher und gestern Nacht in der Ukraine. Krankenhäuser, Schulen, Ambulanzen, Menschen in Essensschlangen, Hilfskonvois, Bäckereien, Kläranlagen – nichts ist mehr tabu.

Diese Missachtung von Normen fügt sich ein in eine breitere Dynamik und verstärkt diese: die Entfremdung gegenüber Institutionen und dem, wofür sie stehen. Das Gefühl, dass die über Jahrzehnte aufgebauten Systeme und Strukturen sich entfernt haben – mehr um Selbsterhaltung und Machtsicherung bemüht sind als darum, den modernen Herausforderungen und den Bedürfnissen der Menschen gerecht zu werden, die sie vertreten sollen.

Ob man diesem Gefühl zustimmt oder nicht – wir müssen diesen Vertrauensverlust ernst nehmen. Und dazu gehören auch multilaterale Institutionen, einschließlich der UNO. Dies wirft wichtige Fragen auf: Befinden wir uns in einer neuen Phase, oder kehren wir zu früheren Verhältnissen zurück? Zu einer Welt, in der Kooperation und Kompromissbereitschaft noch mehr hinter Realpolitik und Machtausübung – auch militärischer Macht – zurücktreten, im Geist von „mein Land zuerst“?

Die Vereinten Nationen wurden gegründet, um die Menschheit vor der Geißel des Krieges zu bewahren und die Würde eines jeden Menschen zu bekräftigen. Doch können wir unser Bekenntnis zu universellen Werten aufrechterhalten – zumindest zu denen, die wir einst ausriefen –, wenn wir die Institutionen schwächen, die geschaffen wurden, um sie zu verteidigen?

Wenn die Erinnerung an die Schrecken des letzten Jahrhunderts verblasst – wollen wir wirklich zurück ins Jahr 1939?

Und – ohne das Bild noch komplizierter machen zu wollen – ich habe nicht einmal die fragmentierte Informationslandschaft erwähnt und die zerstörerische Wirkung von Desinformation und unregulierter Technologie. Die Menschen wissen oft nicht mehr, was wahr ist. Wie sollen Gesellschaften Herausforderungen lösen, wenn sie sich nicht einmal auf die Realität einigen können? Wenn sie nicht dasselbe sehen, hören oder glauben?

Es gibt keine einfachen Antworten darauf. Und ich wäre vermessen, die Analyse weiter auszudehnen – aber ein Thema, das zentral für meine Arbeit ist, bildet gewissermaßen ein Mikroskop dieser großen Fragen: das Asyl für Geflüchtete. Ein Thema, das eint und trennt, provoziert und inspiriert – dessen Herausforderungen die größeren Fragen widerspiegeln, aber dessen Lösungen auch einen Weg weisen können.

Zusammengefasst: mehr Kriege und Gewalt, mehr Flucht, in allen Regionen; dazu Menschen, die Institutionen misstrauen, und keine Einigkeit darüber, welche Probleme überhaupt angegangen werden müssen. Angesichts all dessen ist die Verlockung einfacher Lösungen verständlich. Der natürliche Wunsch, Ordnung in eine Welt zu bringen, die gefährlich und chaotisch wirkt.

Geflüchtete stehen im Zentrum unserer kollektiven Existenzkrise. Und das Bedürfnis nach Kontrolle steht im Mittelpunkt der Debatte über Asyl und Migration. Ja, diese Debatte ist politisiert, manipuliert für Wahlgewinne, oft nicht in guter Absicht geführt. Und ja, leider steckt oft ein Stück weit Xenophobie – wenn nicht offenem Rassismus – in der Sprache, mit der Geflüchtete und Asylsuchende beschrieben werden. Aber wenn wir Lösungen finden wollen, die wirksam und rechtskonform sind, müssen wir der Versuchung einfacher Antworten widerstehen und die Komplexität des Themas anerkennen, und auch die realen Herausforderungen, mit denen Staaten konfrontiert sind.

Wer die Nachrichten verfolgt, könnte leicht glauben, dass die meisten Flüchtlinge in Europa oder Nordamerika ankommen. Die Realität: Über 70 % aller Flüchtlinge weltweit leben in Ländern mit niedrigem oder mittlerem Einkommen, in Ländern wie Kolumbien, Uganda oder Iran.

Ein Beispiel: Laut Innenministerium des Vereinigten Königreichs haben im Zeitraum Juli 2024 bis Juni 2025 insgesamt 111.084 Menschen in UK Asyl beantragt. Darunter 43.600 sind mit den berüchtigten kleinen Booten gekommen, die medial so präsent sind.

Im gleichen Zeitraum sind über 250.000 Sudanesinnen und Sudanesen in den Tschad geflohen – also mehr als doppelt so viele – in ein Land, das bereits über 1,5 Millionen Geflüchtete beherbergt.

Das Bruttoinlandsprodukt Tschads: 20,6 Milliarden Dollar.
Das des Vereinigten Königreichs: 3,6 Billionen.
Das Vereinigte Königreich: ein Land mit Küsten, jenseits derer größtenteils die EU liegt.
Tschad: ein Binnenstaat in einer instabilen Region – und eine der heißesten Gegenden der Welt, besonders anfällig für die Folgen des Klimawandels.

Natürlich ist die internationale Verantwortung komplex, und viele Faktoren spielen hinein. Und ich unterschätze keineswegs die Herausforderungen, vor denen auch wohlhabende Staaten bei der Aufnahme von Asylsuchenden stehen – insbesondere da das Vereinigte Königreich lange Zeit ein großzügiger Geber für viele Erstaufnahmeländer war, auch für den Tschad. Das vergessen wir nicht.

In diesem komplexen Kontext stellt sich also die Frage: Welche Verantwortung haben wir gegenüber Geflüchteten?

Oder konkreter: Was schulden wir den Menschen aus dem Sudan? Um bei meinem Beispiel zu bleiben. Sie leben weit entfernt von London. Aber sind sie „Fremde“ – obwohl ihr Blut in Mengen vergossen wurde, die groß genug wären, um die Erde rot zu färben? Macht sie das weniger fremd? Müssen wir ihre Geschichten erst hören, bevor wir entscheiden, ob wir Verantwortung haben?

Ich kann Ihnen sagen: Diese Geschichten sind nicht leicht. Ich sah Sudanesinnen und Sudanesen zu Tausenden fliehen. Ich hörte von Müttern, die vor den Augen ihrer Kinder vergewaltigt wurden. Von Familien, die Schwache zurücklassen mussten, weil sie nicht mehr weiterkonnten. Von Eltern, die Entscheidungen treffen mussten, die keiner von uns jemals treffen sollte.

Das sind die Geschichten der Geflüchteten. Und deshalb bleibt Asyl – wie seit Jahrhunderten und wie 1951 – eine moralische und rechtliche Verpflichtung, die wir aufrechterhalten müssen; die moderne Übersetzung einer der ältesten und universellsten Gesten menschlichen Mitgefühls.

Sudanesinnen und Sudanesen – wie viele andere Geflüchtete – fliehen vor ethnischer Säuberung, Hunger, Krankheit, sexueller Gewalt, Zwangsrekrutierung, Verstümmelung. Wenn das der Abgrund menschlicher Grausamkeit ist – und das ist er –, dann ist Asyl eine der edelsten Antworten, zu der Menschlichkeit fähig ist. Und sie geschieht. Asyl ist die Geschichte von armen Gemeinden in Tschad, die sudanesische Geflüchtete aufnehmen und teilen, was sie können und damit Leben retten. Ich habe es so oft gesehen: einfache Bangladeschis, die Wagen voller Nahrung und Decken für Rohingya ziehen; Berge von Spielzeug und Süßigkeiten, die Polinnen und Polen in die Erstaufnahmezentren für ukrainische Geflüchtete brachten. Diese Bilder bleiben mir für immer.

Das ist Asyl – jenseits der Politik. Und Asyl ist auch ein Teil der langen Tradition und Geschichte des Vereinigten Königreichs: die Hugenotten, die vor religiöser Verfolgung flohen; Belgierinnen und Belgier, die 1914 vor der deutschen Invasion flohen; Pol*innen, Ungar*innen und viele andere, die vor kommunistischer Herrschaft Schutz suchten; Chileninnen und Chilenen nach Pinochet; Vietnames*innen während der Indochinakrieg; die von Idi Amin aus Uganda vertriebenen Asiaten; und jüngst die 250.000 Ukrainerinnen und Ukrainer, die heute hier leben. Das Vereinigte Königreich, Europa und die Welt wären viel schlechtere Orte ohne diese – und unzählige weitere – Akte der Aufnahme.

Aber wenn wir das Asyl feiern – ja, feiern –, dürfen wir eine wichtige Wahrheit nicht vergessen: Die meisten Geflüchteten wollen zurück nach Hause. Das sagen sie uns, und sie zeigen es uns – man sieht es an den Rückkehrbewegungen nach Syrien. Eine Million Syrer*innen sind nach dem Sturz des Assad-Regimes zurückgekehrt. Fast zwei Millionen Binnenvertriebene kehren in ihre Heimatorte zurück. Natürlich geschieht das schrittweise – und muss es auch –, denn das Land stabilisiert sich langsam nach langen Jahren der Gewalt.

Der Punkt ist: Wenn eine Rückkehr sicher ist, ist das die bevorzugte Option der meisten Geflüchteten – anders als manche Politiker*innen behaupten, die sie darstellen, als wollten sie nur „zu uns“ kommen. Aber ja, wie im Fall der Sudanes*innen, manche müssen ihre Region dennoch verlassen, weil sie dort nicht überleben können.

Dies zeigt, wie globale Probleme – die fast unlösbar wirken – bewältigt werden können, wenn wir strategischer handeln: Je mehr (und gezielter) Erstaufnahmestaaten Unterstützung erhalten, desto besser können sie Geflüchtete versorgen – und desto weniger gefährliche Weiterwanderung findet statt. Doch leider geschieht genau das Gegenteil: Kürzungen bei Entwicklungshilfe – auch hier im Vereinigten Königreich – verschärfen die Not der Geflüchteten und der Aufnahmeländer. Wir dürfen uns dann nicht überrascht zeigen, wenn mehr Menschen weiterziehen!

Und wenn Geflüchtete gezwungen sind, weiterzureisen, stoßen sie auf verschlossene oder schwer zugängliche legale Wege, physisch oder bürokratisch oder beides. Dann bleiben nur verzweifelte Mittel: lebensgefährliche Reisen durch die Sahara, über das Mittelmeer oder in den Ärmelkanal, oft in den Händen von Kriminellen. Viele erleiden unterwegs unvorstellbares Leid – oder sterben.

Geflüchtete sind nicht die Einzigen, die unterwegs sind. Oft reisen sie gemeinsam mit Migrantinnen und Migranten – Menschen, die nicht fliehen müssen, sondern sich wegen Arbeit, Armut, Studium oder aus anderen Gründen auf den Weg machen.

Dieses Phänomen der sogenannten „Mixed Migration“ ist für Staaten besonders schwer zu bewältigen. Da für beide Gruppen unterschiedliche Rechtsrahmen gelten – Geflüchtete haben Anspruch auf Schutz, Migrant*innen nicht –, kommt es häufig vor, dass Migrant*innen Asylanträge stellen, weil es keine anderen legalen Wege für Migration gibt. Dann werden Justizsysteme überlastet. Rückstaus wachsen – ebenso wie Kosten – und der Eindruck von Missbrauch des Systems verstärkt sich. Dies führt zu negativen Folgen für alle – besonders für Geflüchtete, die diffamiert werden, obwohl Asyl für sie eine Frage von Leben und Tod ist.

In dieser Lage steigt der politische Druck ins Unermessliche. Rhetorik und Politik verhärten sich, Grenzen werden geschlossen. Die erste Reaktion: Abschreckung. Eine klare Trennung zwischen „uns“ und „ihnen“. Mauern bauen, Boote stoppen. Alle politischen Optionen werden auf die falsche Wahl zwischen Chaos und Kontrolle reduziert.

In diesem Zusammenhang bin ich mir natürlich der heutigen Ankündigung der britischen Regierung zu Asylreformen bewusst. Dies ist nicht der Ort, um sie im Detail zu kommentieren; aber eines möchte ich sagen: Eine Aufgabe von UNHCR ist es, mit Staaten zusammenzuarbeiten, damit sie ihre Verpflichtungen einhalten. Wir werden die Vorschläge prüfen und unsere Einschätzung teilen, wie wir es immer getan haben, auch wenn wir anderer Meinung waren.

Klar ist aber: Der Vorschlag geht dahin, es Geflüchteten in Großbritannien schwerer zu machen, nicht leichter. Wir werden weiter dafür eintreten, Geflüchteten und ihren Familien mehr Stabilität zu ermöglichen, damit sie beitragen, integrieren und dazugehören können. Und wir müssen ebenso klarstellen: Asyl ist kein Schlupfloch für Migration und kein Aufruf zu offenen Grenzen. Staaten haben das Recht, ihre Grenzen zu kontrollieren. Mehr noch: Es ist ihre Pflicht – und Sie werden mich nichts anderes sagen hören.

Das gesamte Asylsystem basiert darauf, dass Staaten ihre Souveränität ausüben, nicht aufgeben. Asylsuchende bewegen sich vom Territorium eines Staates in das eines anderen – von einer Jurisdiktion zur nächsten – aber immer geschützt durch die Prinzipien der Genfer Konvention.

Sorgen äußern wir, wenn Staaten Maßnahmen erwägen oder umsetzen, die Geflüchteten ihren Schutz verwehren und internationales Recht verletzen. Oder wenn Politiker*innen fordern, die Flüchtlingskonvention abzuschaffen, sie sei „veraltet“ oder „nicht mehr zeitgemäß“. Solches hören wir inzwischen auch in Europa.

Sie können sich vorstellen, wie solche Argumente in Ländern wie Uganda oder Bangladesch ankommen, in Ländern, die Millionen Geflüchtete Jahr für Jahr aufnehmen, manchmal jahrzehntelang. Diese Länder retten täglich Leben, indem sie Asyl gewähren und ihren Verpflichtungen nachkommen. Und ja, auch sie haben Grenzen. Auch sie sind wirtschaftlichen, sozialen und politischen Belastungen ausgesetzt, wie europäische Länder.

Die Herausforderung für alle Staaten besteht darin, gemeinsam Lösungen zu finden, die sowohl den legitimen Bedürfnissen ihrer Bürgerinnen und Bürger als auch den Verpflichtungen gegenüber Geflüchteten gerecht werden – ohne die internationale Solidarität zu untergraben. Eine moralische, rechtliche und politische Herausforderung.

Aber sie ist lösbar.

Ich möchte – ohne diesen Abend in eine politische Fachpräsentation zu verwandeln – kurz einige innovative Ansätze skizzieren, die den Weg weisen: Ansätze aus erfolgreicher Staatenpraxis und UNHCR-Erfahrung.

Der erste Ansatz ist, die Fluchtrouten gesamtheitlich zu betrachten, um Möglichkeiten zu finden, Flucht- und Migrationsbewegungen entlang der Routen zu stabilisieren. Also nicht erst zu handeln, wenn Geflüchtete und Migrant*innen an den eigenen Grenzen stehen. Wenn Geflüchtete Schutz und Chancen finden, sinkt der Anreiz, weiterzuziehen – wie im Fall Hunderttausender Venezolaner*innen, denen Kolumbien 2021 einen vorübergehenden Schutzstatus gewährte. Parallel dazu schaffen mehr Möglichkeiten und regulierte Wege für Migration – etwa für Arbeit oder Studium – geordnete Alternativen und reduzieren den Druck auf das Asylsystem.

Das heißt nicht, dass Kontrollmaßnahmen überflüssig werden. Beide Ansätze ergänzen sich. Rückführungen sind weiterhin möglich – für Menschen, die keinen Schutz benötigen. Auch sicherere Drittstaaten können genutzt werden, wenn internationale Standards eingehalten werden. Das „One in, one out“-Abkommen zwischen Großbritannien und Frankreich zeigt, dass Staaten neue, rechtskonforme Wege finden können.

Zugleich müssen Staaten mit großen Flüchtlingspopulationen weiter unterstützt werden. Ich erwähnte die Kürzungen bei der Entwicklungshilfe. Was ich nicht erwähnte, sind die verheerenden Auswirkungen – und damit meine ich nicht auf UNHCR (auch wenn wir ein Viertel unseres Budgets verloren und Tausende Mitarbeitende entlassen mussten).

Nein – die Geflüchteten zahlen den Preis. Die, die am wenigsten haben. Mangelernährung steigt, Kliniken und Schulen schließen, es fehlt an psychosozialer Unterstützung, an Schutz für Überlebende sexueller Gewalt, an Unterkünften – die Liste ist lang und düster. Millionen Leben sind betroffen, weil Gelder in Verteidigung und Sicherheit fließen.

Dabei hatten wir große Fortschritte erzielt: Früher errichteten wir bei neuen Krisen parallele Strukturen – Schulen, Kliniken, Brunnen – und diese Modelle retteten Leben. Aber als die finanziellen Ressourcen zu schwinden begannen, waren diese Modelle, die Flüchtlinge und Aufnahmegesellschaft getrennt betrachteten, nicht mehr nachhaltig.

Heute setzen wir stattdessen auf nachhaltigere Lösungen: Geflüchtete sollen in bestehende Systeme integriert werden. Also wird beispielsweise die lokale Schule erweitert, statt eine neue für Geflüchtete zu errichten. Dazu müssen oft staatliche Politiken geändert werden – Reisebeschränkungen, Arbeitsmarktzugang, der Zugang zu staatlichen Leistungen. Dadurch können Geflüchtete selbstständiger werden und einen gesellschaftlichen Beitrag leisten, z.B. als Lehrer*innen in den Schulen.

Im letzten Jahrzehnt arbeiteten wir mit Entwicklungsakteuren, auch dem FCDO des Vereinigten Königreichs (Anmerkung: Ministerium für auswärtige Angelegenheiten, Commonwealth und Entwicklung), sowie Weltbank und Privatsektor zusammen und mobilisierten Milliarden, die direkt an Aufnahmeländer gingen, nicht an uns. Der Fortschritt war spürbar.

Dann kamen die Kürzungen – und schwächten eine gute Strategie.

Aber es ist nicht zu spät. Es ist nie zu spät, in Hilfe zu investieren, in Frieden und Stabilität. Denn darum geht es: Friedensdividenden. Ja, sie sind riskant und keine Geschäfte, keine schnellen Gewinne. Aber die Möglichkeit von Frieden, selbst auf lange Sicht, ist immer die bessere Wette als die Gewissheit von Krieg.

Herr Dekan, liebe Freundinnen und Freunde,

Verzeihen Sie, wenn ich etwas ins Technische geraten bin. Mir schien es wichtig, konkret zu werden, um zu zeigen: Um das Vertraute im Fremden zu finden – den Mut, Menschen willkommen zu heißen – müssen wir die Ärmel hochkrempeln, komplexe Fragen wie Flucht und Mobilität entwirren und praktische Lösungen entwickeln, die alle schützen: die, die in Angst fliehen, und die, die sie aufnehmen, wie die Menschen dieses Landes. Meine Botschaft lautet: Wenn wir der Versuchung nach einfachen Antworten widerstehen, Stichwort Mauern, Zurückweisungen, Beschränkungen, können wir die nötige Balance finden und grundlegende Werte aller Zivilisationen bewahren. Es ist möglich!

Die Asyldebatte ist ein Spiegel unserer Welt. Wenn wir ihre schwierigen Aspekte – Missbrauch, Ängste, soziale und wirtschaftliche Herausforderungen – angehen wollen, dürfen wir sie nicht verschärfen, wie es viele Politiker*innen tun, um Wahlen zu gewinnen. Stattdessen müssen wir im engen, komplexen, aber realen Raum zwischen Pragmatismus und Prinzipien arbeiten. Und von dort heraus Lösungen schaffen, die dem elementaren, lebensrettenden Prinzip von Asyl gerecht werden.

Sagen Sie nicht, dass ich idealistisch bin. Oder doch – ich bin es, und stolz darauf. Aber ich habe auch über vier Jahrzehnte in Krisen gearbeitet, angefangen als Freiwilliger an der kambodschanisch-thailändischen Grenze bis zu meiner heutigen Position zehn Jahre an der Spitze einer großen Organisation. Ich habe aus nächster Nähe mehr Krieg, Gewalt und Ungerechtigkeit gesehen, dass ich mich gar nicht mehr daran erinnern möchte. Doch ich habe auch gesehen, welche Kraft menschliche Empathie hat. Ich weiß, dass Wissen, Geduld, Kreativität und Mitgefühl zusammen eine unbesiegbare Mischung bilden können, selbst für scheinbar unlösbare Probleme. Menschen in Not aufzunehmen, gehört heute zu diesen Herausforderungen – aber es gibt einen Weg.

Ein paar Schritte von hier befindet sich die Gedenktafel eines der größten Dichter des 20. Jahrhunderts, den ich seit Langem schätze. In seinem Gedicht Refugee Blues schrieb W.H. Auden die wunderschönen Zeilen:

„A thousand windows and a thousand doors –
Not one of them was ours.“

Können wir noch eine Tür finden, die wir öffnen können?

Ich glaube ja.

Alles, was es braucht, ist der Mut Menschen willkommen zu heißen.

Danke.