Flüchtlingsfrauen gegen geschlechtsspezifische Gewalt
Flüchtlingsfrauen gegen geschlechtsspezifische Gewalt
Als Deborah von häuslicher Gewalt betroffen war, erzählte sie niemandem davon.
Denn häusliche Gewalt gegen Frauen wird häufig als „Familienproblem“ betrachtet. Auch in der Gemeinschaft von Flüchtlingen aus Myanmar, in der Deborah in der malaysischen Hauptstadt Kuala Lumpur lebt.
„Ich habe mich geschämt, meine Erfahrungen mit anderen Menschen zu teilen“, erinnert sie sich. „Ich hatte Angst, dass sie sagen würden, es sei meine Schuld.“
Doch durch ihre Arbeit in der „Myanmar Ethnic Women Refugee Organization“ lernte sie andere Frauen kennen, denen Ähnliches widerfahren ist. Als sie eingeladen wurde, ein Projekt mitzugestalten und zu leiten, das Betroffene von geschlechtsspezifischer Gewalt unterstützen soll, sagte sie zu.
Es mag nicht bahnbrechend klingen, Flüchtlingsfrauen zu bitten, Lösungen für die Probleme zu finden, die sie selbst betreffen und diese Lösungen gemeinsam umzusetzen. Doch laut Professorin Eileen Pittaway vom Forced Migration Research Network an der University of New South Wales (UNSW) in Sydney, Australien, ist dies erst seit kurzem die Norm.
„In der Vergangenheit wurden Flüchtlingsfrauen als verletzlich oder hilflos angesehen, was sich in den Medien und in Spendenkampagnen widerspiegelte“, sagt sie. „In Wirklichkeit sind sie starke Beschützerinnen ihrer Familien und Gemeinschaften.“
Der Globale Pakt für Flüchtlinge, der Ende 2018 von der UN-Generalversammlung beschlossen wurde, enthält Verpflichtungen für Staaten, die Gleichstellung der Geschlechter und die Führungsrolle von Flüchtlingsfrauen zu unterstützen. Allerdings ist die Umsetzung dieser Verpflichtungen in Massnahmen und die Bereitstellung von Ressourcen noch nicht abgeschlossen.
„Mancherorts gibt es die Vorstellung, dass man geschlechtsspezifische Gewalt nur durch den Einsatz von im Westen ausgebildeten Expert*innen bekämpfen kann. Dabei können Flüchtlingsfrauen selbst darauf reagieren“, sagt Pittaway.
„Sie sagen uns: ‚Ihr müsst das nicht für uns tun, ihr müsst uns nur die Mittel geben, dann können wir es selbst tun‘“, so Pittaway.
Eileen Pittaway und ihre Kollegin an der UNSW, Dr. Linda Bartolomei, unterstützen seit über 20 Jahren Flüchtlingsfrauen dabei, „es selbst zu tun“, nachdem sie in den 1990er Jahren mit Frauen in Lagern an der thailändisch-myanmarischen Grenze gearbeitet hatten.
„Diese Frauen erklärten sich bereit, mit uns zusammenzuarbeiten, unter der Bedingung, dass wir sie in unsere Forschungsarbeit einbeziehen. Sie wollten, dass jede, die [an der Forschung] teilnahm, wusste, dass sie etwas zurückbekommen würde, und was sie wollten, war eine Menschenrechtsschulung“, erinnert sich Pittaway.
Sie und Bartolomei entwarfen ein Schulungsmodul für die Frauen und entwickelten dabei die „Reciprocal Research“- Methodik, die darauf abzielt, Flüchtlingsfrauen und -mädchen an der Gestaltung und Umsetzung von Unterstützungsprogrammen zu beteiligen.
Ihr aktuelles 3,5-jähriges Projekt, Refugee Women and Girls: Key to the Global Compact on Refugees, unterstützt von Flüchtlingsfrauen geleitete Massnahmen zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt in Malaysia, Thailand und Bangladesch. Das Projekt wird von der australischen Regierung finanziert und in Partnerschaft mit Frauenorganisationen, lokalen NGOs und Wissenschaftler*innen sowie von UNHCR durchgeführt.
Der Bedarf an lokalen, von Flüchtlingen geleiteten Projekten ist während der COVID-19-Pandemie noch gestiegen, da Lockdowns den Flüchtlingen ihre oft prekären Lebensgrundlagen genommen haben. Das wiederum hat die Spannungen in den Haushalten verschärft und es für Organisationen schwieriger gemacht, Unterstützung zu leisten.
„Als COVID Malaysia erreichte, wurden vor allem Flüchtlingsfrauen anfälliger ... die häusliche Gewalt nahm zu“, sagt Naima Ismail, Präsidentin der Somali Women's Association in Malaysia.
Die erste Phase des Projekts umfasste eingehende Konsultationen mit führenden Flüchtlingsfrauen wie Naima und Deborah, die bereits an vorderster Front bei der Bekämpfung von COVID in ihren Gemeinden standen. „Sie identifizierten die Probleme, mit denen sie konfrontiert waren, und schlugen praktikable Lösungen vor“, erklärt Bartolomei.
Die Frauen erhielten dann Schulungen und finanzielle Mittel, um in ihren Gemeinden Projekte zur Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt und COVID-19 umzusetzen.
„Sie konnten die Mittel nutzen, um das zu tun, was sie als vorrangig ansahen“, sagt Pittaway.
In Malaysia wurden Naima, Deborah und 14 weitere Frauen, die sieben verschiedene Flüchtlingsgemeinschaften repräsentieren, als Anlaufstellen in den Gemeinden eingestellt. Sie leiten Online-Selbsthilfegruppen, die einen sicheren Raum für Frauen bieten, in dem sie über ihre Erfahrungen mit geschlechtsspezifischer Gewalt sprechen können.
„Wenn ich nicht aufstehe und über meine Erfahrungen spreche, wie soll ich dann den anderen Flüchtlingsfrauen helfen?“
Diese Erfahrungen gehen über häusliche Gewalt hinaus. Auch Zwangsehen, sexuelle Ausbeutung oder Missbrauch durch Vermieter und Arbeitgeber sowie das Risiko von Gewalt beim Verkauf von Sex, um sich oder ihre Familien zu ernähren, gehören dazu.
Deborah erzählte von ihren eigenen Erfahrungen, um das Vertrauen der Frauen in ihrer Gruppe zu gewinnen.
„Am Anfang war es sehr schwierig ... aber ich weiss, wenn ich nicht aufstehe und über meine Erfahrungen spreche, wie soll ich dann den anderen Flüchtlingsfrauen helfen, die nicht wissen, mit wem sie über ihre Probleme sprechen können“, sagt sie.
In den Rohingya-Flüchtlingslagern in Bangladesch forderten Frauen, die Überlebende geschlechtsspezifischer Gewalt unterstützen, mehr Schulungen, damit sie sich bei den überwiegend männlichen Leitern der Lagerausschüsse für sie einsetzen können.
An der thailändisch-myanmarischen Grenze baten Flüchtlingsfrauen, die bereits Unterstützungsdienste und sichere Häuser für Überlebende geschlechtsspezifischer Gewalt betreiben, um finanzielle Mittel für die Versorgung von Familien, die aufgrund von COVID ihre Lebensgrundlage verloren haben. Der finanzielle Stress und der Mangel an Nahrungsmitteln in den Haushalten führte dazu, dass die Frauen einem grösseren Risiko von Gewalt durch ihre Partner ausgesetzt waren.
In Kuala Lumpur tragen die Online-Selbsthilfegruppen dazu bei, das zu beheben, was Deborah als gravierenden Mangel an Dienstleistungen für Frauen und Mädchen in ihrer Gemeinde beschreibt. Andere gemeindebasierte Organisationen werden hauptsächlich von Männern geleitet, sagt sie. „Sie beziehen Frauen nicht in die Entscheidungsfindung ein und sagen, dass geschlechtsspezifische Gewalt nur Frauen betrifft.“
Das UNSW-Projekt läuft Anfang 2022 aus, aber man hofft, dass es durch zusätzliche Mittel um mindestens drei weitere Jahre verlängert werden kann. Eine Evaluierung der ersten Phase ergab, dass in allen drei Ländern Verbesserungen bei der Schaffung sicherer Räume für Flüchtlingsfrauen und -mädchen, die geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt sind, erzielt wurden. Die Flüchtlingsfrauen, die die Projekte leiteten, berichteten ausserdem, dass sie sich deutlich besser gehört und respektiert fühlten.
„Ich bin es nicht gewohnt, dass meine Stimme gehört wird“, sagt Naima. „Aber wenn wir unsere Perspektive und unsere Arbeit mit anderen teilen, ist das ein sehr guter Anfang.“