UN-Flüchtlingshochkommissar: "Moment der Wahrheit"
UN-Flüchtlingshochkommissar: "Moment der Wahrheit"
GENF, Schweiz – 15 Jahre nach der Jahrtausendwende, die viele mit der Hoffnung auf Frieden verbunden haben, bedroht die sich global ausbreitende Gewalt die Grundfesten unseres internationalen Systems.
Im letzten Jahr mussten mehr Menschen fliehen als jemals zuvor. Weltweit haben fast 60 Millionen Menschen ihre Heimat durch Konflikt und Verfolgung verloren. Beinahe 20 Millionen sind Flüchtlinge und mehr als die Hälfte von ihnen Kinder. Ihre Zahl steigt rasant an, jeden Tag und auf jedem Kontinent. Vergangenes Jahr wurden an jedem Tag 42.500 Menschen zu Flüchtlingen, Asylsuchenden oder Binnenvertriebenen – viermal mehr als noch vor vier Jahren. Auf uns ruht ihre Hoffnung. Auf uns vertrauen sie, um zu überleben. Sie werden sich erinnern, was wir tun.
Doch während sich diese Tragödie abspielt, verschließen einige Länder, die in der Lage wären zu helfen, ihre Tore gegenüber Schutzsuchenden. Grenzen werden geschlossen, „Push-Backs“ werden zahlreicher und die Feindseligkeiten nehmen zu. Die Möglichkeiten schwinden, über legale Wege Zuflucht zu finden. Humanitäre Organisationen wie UNHCR müssen mit finanziellen Mitteln auskommen, die bei weitem nicht ausreichen, um die Not von immer mehr Menschen zu lindern.
Wir haben den Moment der Wahrheit erreicht. Die Stabilität in der Welt bricht auseinander und hat Flucht und Vertreibung in ungekanntem Ausmaß zur Folge. Die Weltmächte sind entweder zu passiven Beobachtern in Konflikten geworden, wegen derer so viele Menschen aus ihrer Heimat fliehen müssen, oder sie halten als Akteure Abstand von ihnen.
In dieser kriegerischen Welt mit ihren unklaren Kräfteverhältnissen sind Unvorhersehbarkeit und Straflosigkeit die neuen Spielregeln. Daher ist es dringend notwendig, dass all jene mit Einfluss auf die Konfliktparteien ihre Differenzen überwinden, um gemeinsam die Bedingungen für ein Ende des Blutvergießens zu schaffen.
In der Zwischenzeit muss sich die Weltgemeinschaft kollektiv der Aufgabe stellen, die zivilen Opfer der Kriege zu unterstützen. Andernfalls riskiert sie es, dass weniger reiche Länder und die Bevölkerungen in ihren Städten und Dörfern, die derzeit 86 Prozent der Flüchtlinge weltweit aufnehmen, zunehmend überfordert und destabilisiert werden.
Seit den Anfängen der Zivilisation haben wir Flüchtlinge als Menschen wahrgenommen, die unseren Schutz verdienen. Was immer unsere Differenzen waren, wir haben es stets als fundamentale, humanitäre Verpflichtung begriffen, jenen Zuflucht zu gewähren, die vor Krieg und Verfolgung fliehen.
Doch heute stellen gerade die Wohlhabendsten unter uns dieses uralte Prinzip infrage, indem sie Flüchtlinge als Eindringlinge, Konkurrenten um Arbeitsplätze oder Terroristen brandmarken. Diese gefährliche Argumentationsrichtung ist kurzsichtig, moralisch falsch und in einigen Fällen ein Bruch internationaler Vereinbarungen.
Es ist Zeit, sich nicht weiter hinter fehlgeleiteten Worten zu verstecken. Reichere Länder müssen einsehen, dass Flüchtlinge Opfer jener Kriege sind, die Staaten nicht in der Lage waren zu verhindern oder stoppen. Wohlhabende Nationen müssen sich entscheiden, ob sie daheim und im Ausland ihren fairen Beitrag leisten wollen oder sich lieber hinter Mauern verstecken, während sich zunehmend Anarchie in der Welt ausbreitet.
Für mich ist klar, um welche Alternative es geht: weiterhin teilnahmslos zuschauen, wie immer mehr Menschen dem wachsenden Krebsgeschwür von Flucht und Vertreibung zum Opfer fallen oder die Krise gemeinsam zu bewältigen. Wir haben die Lösungen und die Expertise. Es wird nicht leicht oder billig, aber es wird es wert sein. Die Geschichte hat gezeigt: das Richtige für Opfer von Krieg und Verfolgung zu tun, erzeugt für Generationen Wohlwollen und Prosperität. Zudem fördert es auf lange Sicht die Stabilität.
Die Welt muss ihr Bekenntnis zur Genfer Flüchtlingskonvention und ihren Prinzipien erneuern, die uns stark gemacht haben: Flüchtlingen in unseren Ländern und in der Nachbarschaft von Krisenregionen eine sichere Zuflucht zu gewähren sowie ihnen dabei zu helfen, ein neues Leben aufzubauen. Wir dürfen nicht versagen.