Valentyna: „Mein Zuhause ist dort, wo ich mich frei fühle.“
Valentyna: „Mein Zuhause ist dort, wo ich mich frei fühle.“
Schon 2014 war mir klar, dass dieser Krieg nicht schnell enden würde – dass er nicht einfach nur ein oder zwei Monate dauern würde. Ich erinnere mich an den Tag, als prorussische Kräfte das Verwaltungsgebäude der Region Luhansk stürmten. Wir waren auf einer friedlichen Kundgebung, als eine aggressive Menschenmenge auf uns zukam. Sie rissen uns die ukrainischen Fahnen aus den Händen, warfen sie auf den Boden und trampelten darauf herum. Das war unglaublich schmerzhaft – denn das ist dein Land, dein Staat, deine Familie. Und dann kommt jemand in deine Straße und bezeichnet sich selbst als „Herrscher“.
Flucht aus Luhansk – und kein Zurück
In dem russisch besetzten Luhansk zu bleiben und dabei die ukrainische Identität zu bewahren, war gefährlich. Im Juni 2014 verließ ich mit meinem fünfjährigen Sohn Nazar – der eine Behinderung hat – Luhansk, um in Kiew medizinische Hilfe zu bekommen. Wir kehrten nie wieder zurück. Mir war klar: Eine Rückkehr ist erst möglich, wenn Luhansk wieder unter ukrainischer Kontrolle steht.
Zuhause ist mehr als ein Ort
Auch meine Eltern sind geflüchtet. Seitdem bin ich nicht ein einziges Mal nach Luhansk zurückgekehrt. Ich habe mein Zuhause nicht mehr besucht. Mir war klar: Ich muss mir anderswo ein neues Leben aufbauen. Es wurde leichter, als ich mich bewusst davon löste, „Zuhause“ mit einem bestimmten Gebäude zu verbinden. Mein Zuhause ist dort, wo meine Familie ist, wo ich mich frei fühle. Ich lebe in einer Einzimmerwohnung in Kiew, aber das ist nicht entscheidend. Entscheidend ist, dass ich in meinem eigenen Land bin.
Vernetzung mit anderen Müttern
Anfangs fehlte mir in Kiew der soziale Austausch vor allem als Mutter eines Kindes mit Behinderung. Aber mit der Zeit begann ich, mich mit anderen vertriebenen Frauen in ähnlichen Situationen zu vernetzen. 2020 wurde ich eingeladen, im Büro der Beauftragten für die Rechte von Menschen mit Behinderungen mitzuarbeiten.
Wieder auf der Flucht
Noch vor Beginn der großflächigen Invasion hatte ich das starke Gefühl, dass etwas auf uns zukommt - meinen Sohn in Sicherheit zu bringen, war meine oberste Priorität. Wir verließen Kiew, das von russischen Truppen eingekreist war, und gingen nach Lviv. Fast sechs Monate blieben wir dort und halfen, Familien mit Kindern oder Angehörigen mit Behinderungen zu evakuieren.
Im Dezember 2022 kam mein zweiter Sohn, Myron, zur Welt. Zu diesem Zeitpunkt waren wir wieder in Kiew. Schon am zweiten Tag nach seiner Geburt mussten wir wegen Beschuss in den Keller der Entbindungsklinik fliehen. Es gab schwere Angriffe und weitreichende Stromausfälle. So begannen Myrons erste Lebenstage.
Kindheit im Krieg
Heute ist er zwei Jahre alt. Er versteht noch nicht, was Krieg bedeutet. Er spricht kaum. Aber wenn wir uns bei Luftalarm im Flur in Sicherheit bringen oder beim Spaziergang im Park Sirenen hören, sehe ich die Fragen in seinen Augen: ‚Was ist das? Warum müssen wir rennen und uns verstecken?‘ Wir versuchen, nicht zu weit von zu Hause wegzugehen, damit wir schnell in Schutzräume können. Bei massiven Angriffen verlassen wir manchmal Kiew. Doch je älter Myron wird, desto schwerer wird es, ihm diese Realität zu erklären.
Ich weiß, der Moment wird kommen, in dem ich ihm erklären muss, was Krieg ist. Aber ich weiß auch, dass er noch nicht bereit dafür ist.
Gegenseitige Unterstützung
Was mir hilft, emotional stabil zu bleiben, ist meine Arbeit. Ich leite die NGO „Litay“ (was auf Deutsch „Flieg“ bedeutet), die wir 2022 gegründet haben, um vertriebene Mütter von Kindern mit Behinderung zu unterstützen. Die Lebenswege dieser Frauen sind keine leichten, sie können unterschiedlich verlaufen – in ständiger Verzweiflung, oder in dem Bewusstsein: Das ist dein Leben, und es ist es wert, gelebt zu werden.
Unser Ziel ist es, diesen Frauen die Unterstützung zu geben, die ihnen hilft, ihre innere Kraft wiederzufinden und neue Inspiration und Motivation zu schöpfen. „Litay“ steht für Flügel, für Inspiration, dafür, nicht aufzugeben und weiterzugehen.
Doch meine größte Motivation und Inspiration sind meine Söhne. Wie könnte ich nicht an eine bessere Zukunft glauben, wenn ich Kinder großziehe? Es bleibt keine Zeit für Verzweiflung, wenn der zweijährige Myron meine ganze Aufmerksamkeit braucht. Seine Zukunft soll in einem friedlichen Land liegen – in einem Land ohne Krieg.
Valentynas Geschichte ist Teil der UNHCR-Porträtreihe „A Piece of Home. A Piece of Hope“ (etwa „Ein Stück Zuhause. Ein Stück Hoffnung“). Geflüchtete Menschen aus der Ukraine sprechen darin über ihre Flucht, ihren Neuanfang und ihre Hoffnungen.