Architektinnen ihrer Zukunft
Architektinnen ihrer Zukunft
Angesichts der durch den Krieg verursachten Zerstörung von kritischen Infrastrukturen, Gebäuden und Versorgungsnetzen sowie den verheerenden Auswirkungen auf Landschaft, Natur und Umwelt, setzt die Ukraine nach zwei Jahren des Angriffskrieges und zehn Jahren seit Beginn des Krieges in der Ostukraine auf den Wiederaufbau. Dieser birgt nicht nur die Hoffnung auf eine bessere Zukunft, sondern auch die Chance für umfassende Transformationen. Frauen spielen als Stützpfeiler von Familien und Gemeinschaften dabei eine entscheidende Rolle. Während der Flucht tragen Frauen ausserdem oft grosse Verantwortung, insbesondere in der Integration der Familie im Aufnahmeland. Aus diesen Gründen ist es besonders wichtig, Frauen in Friedensprozesse und Prozesse des Wiederaufbaus einzubeziehen.
Das diesjährige Thema des Internationalen Frauentags, „In Frauen investieren“, unterstreicht diese Schlüsselrolle. Ein Projekt, das in geflüchtete Frauen aus der Ukraine investiert, ist das Certificate of Advanced Studies (CAS) Wiederaufbau Ukraine, lanciert von der Berner Fachhochschule BFH mit Unterstützung des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO). Das Ziel ist, Flüchtlinge aus der Ukraine mit beruflichem Bezug zum Bausektor in Wiederaufbauprojekte einzubeziehen.
Bildung für den Wiederaufbau
«Ich wünsche mir, dass die Ukraine nach dem Krieg besser als zuvor wieder aufgebaut wird. Dass Flüchtlinge aus aller Welt zurückkehren, und neues Wissen und Beziehungen mitbringen, damit wir gemeinsam unser Land wiederaufbauen können», meint die Architektin Elena Orap. Zum Zeitpunkt des Kriegsausbruchs lebte sie mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Kiew. Die Familie floh in die Schweiz zu ihren Freunden. Im Rahmen des CAS Wiederaufbau Ukraine leitet Elena ein Projekt zur Verbesserung von Luftschutzkellern in Kindergärten und Schulen in Kiew damit die Kinder während des Krieges in Sicherheit in den Unterricht gehen können.
«Wir Frauen denken bereits jetzt an die Zukunft. Nach dem Krieg werden Männer viel Zeit und Unterstützung benötigen, um sich physisch und psychisch zu erholen. Die Zukunft der Ukraine hängt von uns Frauen ab», betont die Bauingenieurin Hanna Zaporozhets, die am gleichen Projekt beteiligt ist. Ursprünglich aus Donezk stammend, war sie seit 2014 Binnenflüchtling aufgrund des Krieges im Donbas. Als der Angriffskrieg 2022 ausbrach, lebte sie mit ihrem Mann und ihrem 1.5-jährigen Kind in Mariupol. Im April 2022 floh sie in die Schweiz, während ihr Mann in die Westukraine flüchtete.
Neben Schulen und Kindergärten benötigen auch Krankenhäuser Schutzräume. An einem solchen Projekt beteiligt ist Kateryna Vynogradova, die vor ihrer Flucht in die Schweiz in der Abteilung für Sozialschutz in der regionalen Verwaltung von Saporischschja arbeitete. Dort lebte sie zusammen mit ihrem Mann und ihren Kindern.
Build Back Better: Eine Vision für die Zukunft
Die drei Frauen sehen sich als Bindeglied zwischen der Schweiz und der Ukraine und hoffen, langfristig am gemeinsamen Wiederaufbau teilhaben zu können. Der Leitsatz für den Wiederaufbau, Build Back Better, basiert auf einer Vision von Nachhaltigkeit, Inklusion, Modernisierung und Energieeffizienz.
Kateryna ist besonders besorgt über die ökologischen Auswirkungen des Krieges. Vor 2022 waren weltweit rund 400 Millionen Menschen auf Lebensmittel aus der Ukraine angewiesen. Heute ist etwa ein Drittel des ukrainischen Staatsgebiets durch Minen und Schwermetalle kontaminiert, und die Rehabilitation der Agrarflächen wird Jahrzehnte dauern. Teilnehmende des CAS Wiederaufbau Ukraine arbeiten auch in diesem Bereich an verschiedenen Projekten.
Frauen als Stützpfeiler
Insbesondere bei der Förderung nachhaltiger Entwicklung nehmen Frauen häufig eine bedeutende Rolle ein. Elena unterstreicht: «Feministische Ansätze tragen dazu bei, eine vielfältigere und gerechtere Welt zu schaffen – einen besseren Ort für alle. Die Krise, der wir gegenüberstehen, wurzelt in der Notwendigkeit von Gemeinschaft und planetarer Sorge. Die Neigung von Frauen zur Fürsorge ist entscheidend für den Wiederaufbau und die Rehabilitation.»
Während Männer zum Wehrdienst eingezogen wurden, übernahmen Frauen verstärkt die Rolle der Familienoberhäupter und Leitfiguren in ihren Gemeinschaften. Hanna reflektiert: «Als der Krieg ausbrach, wurde mir klar, dass das Schicksal meiner Familie nun hauptsächlich in meiner Hand liegen würde. Es lag an mir, mich um unser Kind zu kümmern, zu arbeiten, Geld zu sparen und Vorbereitungen für unsere Zukunft zu treffen.» Kateryna teilt eine ähnliche Perspektive: «Der Krieg zwang uns, stärker zu werden, und den Gedanken zu verwerfen, dass es etwas gibt, was wir nicht bewältigen können.»
Langfristige Perspektiven
Der wichtigste Antrieb für die drei Frauen ist ihre Verantwortung als Mütter. Allerdings stellt die Vereinbarkeit von Arbeit und Kinderbetreuung eine erhebliche Herausforderung dar. Neben den Sprachkenntnissen betrachten die drei dies als grösste Hürde für ihre berufliche Integration in der Schweiz. Unterdessen wird der laufende Lehrgang am 22. März 2024 enden, und Elena, Hanna und Kateryna setzen ihre Hoffnungen darauf, Finanzierung für ihre Wiederaufbauprojekte zu erhalten, um diese erfolgreich umsetzen zu können.
Am Ende des Interviews kommt Katerynas Tochter Lisa von der Schule heim. Neben Ukrainisch spricht die Primarschülerin bereits fliessend Deutsch und lernt zusätzlich Englisch. «Der Wiederaufbau wird ein langfristiges Projekt sein», kommentiert Kateryna. «Auch unsere Kinder werden daran teilhaben. Mehr als unsere Generation werden sie die Brückenbauer*innen sein, die neues Wissen und Kenntnisse in die Ukraine bringen und unsere Zukunft gestalten werden.»
CAS Wiederaufbau Ukraine
Das CAS Wiederaufbau Ukraine wurde von der Berner Fachhochschule BFH mit Unterstützung des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO) lanciert. Die praxisnahe Weiterbildung richtet sich vorrangig an ukrainische Flüchtlinge mit beruflichem Bezug zum Bausektor. Ziel ist es, die Teilnehmenden zu befähigen, den Wiederaufbau von Gebäuden und Infrastrukturbauten in der Ukraine zu evaluieren, mitzugestalten und zu leiten. Verschiedene Schweizer Hochschulen und Unternehmen sind am Projekt beteiligt und fördern den Wissensaustausch durch Kurse und Exkursionen. Ein wachsendes Netzwerk von schweizerischen und ukrainischen Akteuren arbeitet gemeinsam an verschiedenen Wiederaufbauprojekten. Die Weiterbildung befindet sich derzeit in ihrer zweiten Runde mit 27 Frauen und drei Männern, und im Herbst 2024 ist eine dritte Durchführung geplant. Thomas Rohner, Initiant des CAS Wiederaufbau Ukraine und emeritierter Professor der BFH, ist überzeugt: «Wenn Frauen unsere Städte und Dörfer planen würden, sähen sie deutlich ansprechender und nachhaltiger aus.»