Spitzensportler, Maler und Familienvater: Habtom Amaniels drei Leben
Spitzensportler, Maler und Familienvater: Habtom Amaniels drei Leben
Als er im September 2015 in die Schweiz kam, war Habtom Amaniel kein Elitesportler. Mit einer massiven, durch Krafttraining geformten Figur hat er noch nicht den schlanken, der für Spitzenläufer typischen Körperbau. Der junge Eritreer, der im Etablissement vaudois d'accueil des migrants (EVAM) in Gland (Waadt) untergebracht ist, nutzte die Gelegenheit, um wieder in seinen Lieblingssport einzusteigen. "Als Kind hatte ich den Traum zu laufen, Profi zu werden und bekannt zu sein, aber ich hatte keine Zeit zu trainieren", erklärt Habtom Amaniel, der in einem kleinen Haus in einem Bergdorf mit seinem Vater und zwölf Geschwistern aufwuchs.
Erste Schritte durch Zufall
Sein Debüt in der Schweiz verdankt Habtom dem Zufall. Die Sporttrainerin Catherine Collomb trat an das EVAM heran und bot an, ihre Mittwochvormittage zur Verfügung zu stellen, um eine Laufgruppe für Flüchtlinge zu gründen. Die Unterstützung von Freiwilligen ist für Flüchtlinge enorm wichtig. Diese können ihnen helfen, sich in der Schweiz zu Recht zu finden, was vielen aufgrund eines fehlenden sozialen Umfeldes oder fehlenden Sprachkenntnissen schwer fällt. Habtom Amaniel liess sich diese Gelegenheit nicht entgehen, ebenso wie etwa fünfzehn weitere Personen. Und während andere aufgaben, klammerte sich der 1500-Meter-Spezialist an seinen Traum: "Es gab viele von uns, aber einige verletzten sich oder gaben auf. Ich hatte einen Traum. Sie hat mir bis heute sehr geholfen. Es ist wirklich eine grossartige Gelegenheit, ich habe keine Worte, um es zu beschreiben... Ich bin so dankbar für diese Unterstützung!"
Mit Training und Entschlossenheit hatte Habtom Amaniel bald seine ersten Erfolge. Während er bei der Tour du Pays de Vaud Etappen gewann und sich in seinem Gastkanton einen Namen machte, erhielt er die Aufenthaltsbewilligung B. Dies ermöglichte ihm, ein Verfahren zur Familienzusammenführung, um endlich mit seiner Frau und seiner Tochter wiedervereint zu werden. "Ich hatte sie seit fast sechs Jahren nicht mehr gesehen. Das hat mich traurig gemacht", erinnert er sich ergriffen. Obwohl der Sportler grosse Entschlossenheit zeigt und weiterhin hart trainiert, hat er paradoxerweise nicht die richtige Ausrüstung. Bei einem Wettkampf ist den Medien nicht entgangen, dass er "Schuhe mit abgetragenen Sohlen" trug. Ein Appell seines Trainers ermöglichte es ihm schliesslich, Partner zu finden, die bereit waren, ihn zu unterstützen.
"Ich bin nicht in die Schweiz gekommen, um Sport zu treiben, sondern um mich zu schützen."
In diesen schwierigen Zeiten konnte sich der Läufer immer auf seine Erfahrungen als Flüchtling und auf den Sport verlassen. "Das hilft mir sehr. Ich schaue mir immer an, was ich vorher hatte und was ich jetzt habe. Ich habe in der Schweiz alles gefunden, was ich brauche", fügt der Mann hinzu, der in seinem Land unter anderem einen unbefristeten Wehrdienst leisten musste. Sport spielte bei seiner Integration eine grosse Rolle. "Ich bin nicht in die Schweiz gekommen, um Sport zu treiben, sondern um mich zu schützen. Aber der Sport hat mir geholfen, die Sprache zu lernen und ich habe viele Leute kennengelernt. Ich hoffe auch, dass andere Flüchtlinge, so wie ich, den Sport nutzen, um ihre Träume zu verwirklichen", ergänzt Habtom Amaniel.
Einer seiner Träume ist es, das höchste Niveau zu erreichen. Als Stipendiat für Flüchtlingssportler des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) stand er kurz davor, für die Teilnahme an den Olympischen Spielen 2020 in Tokio ausgewählt zu werden. Das ist nur eine halbe Enttäuschung für den Mann, der immer wieder wiederholt, dass man "niemals aufgeben darf".
Dieses Credo wendet Habtom Amaniel tagtäglich an, in seinem täglichen Leichtathletik-Training, seinem Familienleben und seiner Lehre als Maler. "Ich habe drei Leben. Als Maler arbeite ich acht Stunden am Tag. Als Sportler laufe ich hundert Kilometer pro Woche", sagt er ohne mit der Wimper zu zucken. "Als ich in der Schweiz ankam, hatte ich nicht einmal eine Decke. Jetzt habe ich alles. Auch wenn ich müde bin, finde ich immer Ressourcen. Nichts kann mich erschüttern. Meine Familie ist bei mir und ich habe alles, was ich brauche, um glücklich zu sein."
«Er hat sofort Portenzial gezeigt»
Einmal in der Woche steigt Habtom Amaniel auf sein Fahrrad und fährt von Roche, dem Dorf im Kanton Waadt, in dem er lebt, nach Aigle. Dort führt er das ganze Jahr über im Trainingsraum von Cyrille Gindre Übungen zur Muskelstärkung durch. Ein Rhythmus, der seinen Manager immer wieder aufs Neue überrascht. "Zwischen seiner Familie, seiner Arbeit als Maler und seinen Trainingseinheiten strengt sich Habtom unter der Woche drei- bis viermal an", wundert sich sein Trainer. Seine athletischen Fähigkeiten sind umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dasser vor 25 oder 26 noch nie gelaufen war. "Er hat sofort Potenzial gezeigt", gesteht Cyrille Gindre.