Am Ende der Reise wartet die Mutter
Am Ende der Reise wartet die Mutter
Die Vierzimmerwohnung duftet nach gerösteten Kaffeebohnen und Ingwer. Auf dem Couchtisch im Wohnzimmer liegt ein schön verzierter traditioneller Stoff, darauf stehen mit Kaffee gefüllte Tassen in den eritreischen Nationalfarben und daneben frisch zubereitetes Popcorn. Die fünf Kinder spielen ruhig im Raum. Ihre Mutter Winta, 40 Jahre, und ihr Onkel Asante*, 28 Jahre, beobachten sie liebevoll. Die beiden Erwachsenen begrüssen uns mit einem breiten Lächeln.
Es ist schwer vorstellbar, dass die Mitglieder dieses herzlichen Haushalts bis zu ihrem Wiedersehen im April 2018 mehrere Jahre voneinander getrennt waren. Von dieser Zeit und den gescheiterten Versuchen nach Europa zu kommen, zu erzählen, weckt bei der Familie schmerzvolle Erinnerungen.
„Wie hätte ich ihr denn erklären sollen, dass ich ihre Kinder durch die Hölle schicken würde?“
Winta erinnert sich zurück an die Zeit im Juni 2014. Damals war sie gerade mit ihren zwei jüngsten Kindern in die Schweiz gekommen: Melat, heute 9 Jahre alt, und Yonathan, 7 Jahre alt (ihr jüngster Sohn Mekseb wurde 2016 geboren). Die beiden Ältesten, Ermias (13 Jahre) und Ksanet (16 Jahre) sind bei ihren Grosseltern und ihrem Onkel in Eritrea geblieben.
Aufgrund der zunehmend unsicheren Lage in ihrer Region sind auch Ermias und Ksanet schliesslich gezwungen, das Land zu verlassen. Auch Asante* muss aus Eritrea fliehen um der Zwangsrekrutierung durch den eritreischen Militärdienst zu entkommen. Dank eines glücklichen Zufalls finden sich die drei Familienmitglieder in einem äthiopischen Registrierungszentrum für Flüchtlinge wieder. Sie schaffen es sogar, Fotos von sich zu machen und diese an Winta zu schicken, damit sie sich keine Sorgen macht. Winta beginnt im September 2015, sich um die Behördengänge zu kümmern, um ihre Familie in die Schweiz zu holen.
„Meine Kinder warfen mir vor, dass ich mich nicht genug bemühte, sie zu mir zu holen. Es gab keinen Tag, an dem ich nicht weinte.“
Winta erinnert sich wie schwierig es war, getrennt von ihren zwei ältesten Kindern zu sein.
Die drei leben zunächst in einem äthiopischen Flüchtlingslager. Die dortigen Lebensbedingungen sind schwierig – sie schlafen zu sechst in einem Raum –, doch die Aussicht, wieder mit dem Rest der Familie vereint zu werden, gibt ihnen Hoffnung und Trost. Sie setzen ihre Reise nach Addis Abeba fort, um ihre Unterlagen für die Familienzusammenführung bei der Schweizerischen Botschaft einzureichen. Doch der Vorgang zieht sich in die Länge. Währenddessen verzweifelt Winta in der Schweiz: „Meine Kinder warfen mir vor, dass ich mich nicht genug bemühte, sie zu mir zu holen“, erinnert sie sich. „Es gab keinen Tag, an dem ich nicht weinte.“ Nach einem Jahr in der äthiopischen Hauptstadt verliert Asante* die Geduld und er muss einsehen, dass er seine Familie nicht richtig versorgen kann. Darum trifft er eine Entscheidung: Die drei werden sich auf eigene Faust nach Europa aufmachen. „Wir sind dann wieder ins Flüchtlingslager zurückgekehrt, um unseren Aufbruch vorzubereiten, doch davon konnte ich meiner Schwester nichts verraten“, gesteht er. „Wie hätte ich ihr denn erklären sollen, dass ich ihre Kinder durch die Hölle schicken würde?“
Der Leidensweg dokumentiert im Schulheft
Für Asante*, Ermias und Ksanet beginnt eine gefährliche und strapaziöse Reise, die sie ein Leben lang prägen wird. Das Mädchen, zu jenem Zeitpunkt 14 Jahre alt, hat bei ihrer Ankunft in der Schweiz alles, was sie erlebt hat, in einem ihrer Schulhefte festgehalten. „Als ich zum ersten Mal auf dieses Heft stiess, konnte ich es gar nicht fassen“, erklärt ihre Mutter mit zitternder Stimme und feuchten Augen. „Und dabei hatte ich dieselbe Flüchtlingsroute gewählt. Ich hätte niemals gedacht, dass meine Kinder einmal so etwas durchmachen müssen.“
„Ich hätte niemals gedacht, dass meine Kinder einmal so etwas durchmachen müssen. Und dabei hatte ich dieselbe Flüchtlingsroute gewählt.“
Winta kann sich kaum vorstellen, was ihre Kinder im Exil durchmachen mussten.
Die drei EritreerInnen durchqueren im Sommer 2017 den Sudan und gelangen nach Libyen. Der Weg durch die Sahara war besonders qualvoll. „Wir waren 800, doch es gab nur drei Lastwagen“, erinnert sich Asante*. „Auf der dreiwöchigen Reise bekamen wir nur sehr selten etwas zu trinken. Manche Leute sind vor Erschöpfung und Durst gestorben. Bei unserer Ankunft in Libyen wurden wir mit einem Wasserschlauch bespritzt – als wären wir Pflanzen, die man zuvor hatte vertrocknen lassen.“ Die Schleuser bereiten die Weiterreise vor und befördern sie mit 200 anderen MigrantInnen in Richtung Meer. Doch der Geländewagenkonvoi wird von einer bewaffneten Bande attackiert, die den Onkel gewaltsam von seinem Neffen und seiner Nichte trennt.
Winta weiss indes nicht, was mit ihrem Bruder und ihren beiden Kindern geschehen ist. „Die letzte Nachricht hiess: Wir sind auf dem Weg zum Meer. Danach gab es wochenlang keine Neuigkeiten mehr. Ich hatte ungeheuerliche Angst. Ich habe sehr viel gebetet.“ Dann erhält sie ein Lebenszeichen von einem der Kidnapper, der von ihr 8’000 Franken für die Freilassung ihrer beiden ältesten Kinder fordert. „Mit meinem bescheidenen Einkommen konnte ich das Lösegeld jedoch nicht bezahlen.“ Es vergehen vier Monate, ohne dass die Mutter Kontakt zu den Entführern aufnehmen kann oder etwas von ihren Kindern hört.
„Bei unserer Ankunft in Libyen wurden wir mit einem Wasserschlauch bespritzt – als wären wir Pflanzen, die man zuvor hatte vertrocknen lassen.“
Asante*, Wintas Bruder, erzählt von den Schrecken der Wüstendurchquerung.
Nach mehreren erfolglosen Versuchen gelingt es Winta endlich, einen der Entführer zu kontaktieren. Sie erfährt, dass ihre beiden Kinder von der bewaffneten Gruppe zunächst freigelassen wurden und nun in einem Gefangenenlager festsitzen. Der Internationale Sozialdienst (SSI) setzt UNHCR darüber in Kenntnis, worauf die UN-Flüchtlingsorganisation Ermias und Ksanet in der Nähe von Misrata lokalisieren kann. Die Familienzusammenführung wird eingeleitet. Der Moment, den Winta seit Jahren erträumt hatte, wird endlich wahr: Ermias und Ksanet landen im April 2018 am Flughafen Genf (Video ansehen).
„Ich hatte mir nichts sehnlicher gewünscht, als wieder mit meiner Familie vereint zu sein!“
Die beiden Kinder erhalten schon bald von den Schweizer Behörden den Ausweis F für Flüchtlinge, den gleichen, den bereits ihre Mutter und ihre jüngeren Geschwister besitzen. Der Onkel, der über Italien in die Schweiz gekommen ist, reicht ebenfalls ein Asylgesuch ein. Er hat gegenwärtig einen N-Ausweis (Asylsuchender) und hat eine Beschwerde gegen die erste Ablehnung seines Gesuchs eingelegt. Er sollte nach Italien zurückkehren – das erste Land, in dem er registriert wurde. So sieht es das Dublin-Verfahren vor.
Die Mutter betont, dass die Planung des Alltags einer siebenköpfigen Familie nicht besonders schwer sei. „Nach dem, was wir erlebt haben, hat man einen anderen Blick auf die Probleme des Alltags. Das Positive überwiegt immer.“ Der Austausch untereinander sei harmonisch wie eh und je. „Ich hatte mir nichts sehnlicher gewünscht, als wieder mit meiner Familie vereint zu sein! Es war so, als ob der Kontakt niemals abgebrochen gewesen wäre – ganz einfach und natürlich. Ermias und Ksanet sind sehr liebe und höfliche Kinder.“
Auch für Ksanet war der erste Kontakt mit der Schweiz gekennzeichnet durch die grosse Freude, wieder auf die anderen Familienmitglieder zu treffen. Das junge, schüchterne Mädchen räumt ein, dass sie sich anfangs ein wenig vor der Schule gefürchtet habe – sie besucht gemeinsam mit ihrem Bruder eine Willkommensklasse in Clarens –, da sie nicht verstand, was ihre Klassenkameraden sagten. Heute hat sie sich unter anderem dank einer eritreischen Klassenkameradin gut eingelebt. Sie möchte „gute Noten bekommen“. Beim Rechnen gelingt ihr das, denn „es gibt nicht viele schriftliche Anweisungen“.
Nächstes Jahr wird sie in Lausanne eine Berufsschule besuchen. „Als ich klein war, wollte ich Ärztin werden. Jetzt kann ich mir gut eine Lehre vorstellen, vielleicht als Coiffeuse.“ Ihre Schwester Melat geht hingegen zur obligatorischen Schule und drückt sich in perfektem Französisch aus. Sie unterstützt ihre grosse Schwester und ihren grossen Bruder tatkräftig. „Ich helfe meinen Geschwistern bei fast allem“, erklärt sie stolz.
Trotz dem vergnügten Miteinander und dem Lächeln der rührenden Geschwister merkt man, dass die älteren Kinder im Vergleich zu den jüngeren fast gleich gross sind – eine beunruhigende Nebenwirkung der Monate im Exil und der libyschen Hölle. Der Weg ist noch lang, doch alle sind sehr motiviert, die Herausforderungen zu meistern.
„Als ich klein war, wollte ich Ärztin werden. Jetzt kann ich mir gut eine Lehre vorstellen, vielleicht als Coiffeuse.“
Ksanet schmiedet jetzt wieder Zukunftspläne.
Winta, die sich nicht nur um die Erziehung ihrer fünf Kinder kümmert, sondern auch um den Haushalt, hat alle Hände voll zu tun. „Sie sind meine besten Freunde. Ich verbringe meine ganze Zeit mit ihnen.“ Für sie selbst bleibt nur Zeit für zwei Aktivitäten: Etwa zweimal pro Woche geht sie zum Frauentreffen des Vereins Appartenances, um Französisch zu lernen und jedes Wochenende besucht sie in Lausanne einen eritreisch-orthodoxen Gottesdienst. „Die Schweiz ist ein Land mit humanen Werten“, erklärt sie. „Wir erhalten finanzielle Hilfe für die Wohnung und die Kleinen gehen zur Schule. Sie lieben es, im Genfersee schwimmen zu gehen.“ Laut Winta ist das eines ihrer Lieblingshobbys, seitdem die Kinder in der Schweiz sind. „Es wäre schön gewesen, wenn meine Kinder schon früher zu mir hätten kommen können – durch eine Familienzusammenführung direkt aus Äthiopien. Ich denke da an alle Mütter, die solch eine schwere Trennung ertragen müssen“, sagt sie.
Auch wenn die Lage für Asante* und Wintas Mann, der sich aktuell in der Türkei aufhält, noch unsicher ist und sie belastet, kann sie mittlerweile beruhigt einschlafen. Denn sie weiss, dass all ihre Kinder das friedliche Ufer des Genfersees erreicht haben – weit weg von den Erinnerungen an den Tod und die Gefahren am Mittelmeer.
*Der Vorname wurde aus Sicherheitgründen geändert.
Die Schweiz stellt zurzeit besonders strenge Anforderungen an die Familienzusammenführung. Letztere ist nur für Ehepartner und minderjährige Kinder möglich und schliesst andere Familienmitglieder - so wie Asante* - aus. Dies trotz der entscheidenden Rolle, die dieser bei der Betreuung der ältesten Kinder gespielt hat. UNHCR hat in einer gemeinsam mit dem Centre Suisse pour la Défense des Droits des Migrants (CSDM) veröffentlichten Studie die Bedingungen kritisiert, die Menschen mit einem Ausweis F – wie Winta – für die Familienzusammenführung auferlegt werden.