«Das Potenzial ist gross, aber die Herausforderungen auch»
«Das Potenzial ist gross, aber die Herausforderungen auch»
«Das UNHCR Büro für die Schweiz und Liechtenstein hat 2020 beschlossen, die Förderung der Partizipation von Flüchtlingen als neues Kernziel in die Strategie aufzunehmen», erklärt Haile Kassa Hailu. An diesem Februarabend steht er Anja Klug der Leiterin des UNHCR Büros für die Schweiz und Liechtenstein an Stehtischen in einem Veranstaltungssaal im Hotel Kreuz in Bern gegenüber. Die beiden stellen gemeinsam den Bericht über Flüchtlingsgemeinschaften in der Schweiz und in Liechtenstein vor. Dieser umfasst Daten und Analysen von 38 Flüchtlingsgemeinschaften, die in der Schweiz oder in Liechtenstein ihren Sitz haben. Insgesamt gäbe es aber über 100, wie Haile Kassa Hailu im Vorfeld erklärt.
Viel Potenzial, viele Herausforderungen
Das Gespräch findet seinen Weg schnell zu den Ergebnissen und Empfehlungen, die sich aus dem Bericht ergeben haben. Viele der Flüchtlingsgemeinschaften seien aus Zusammenschlüssen innerhalb der entsprechenden Diasporas entstanden, erklärt Haile Kassa Hailu. Er erzählt weiter, dass sich diese Vereine zur Mehrheit aus Männern zusammensetzen, wobei es auch erfolgreiche Organisationen gibt, die von Frauen geführt werden. «Junge Menschen für die Arbeit in Flüchtlingsgemeinschaften zu gewinnen, scheint aber schwierig zu sein», fügt Haile Kassa Hailu an.
Obwohl für viele die Integrationsförderung an erster Stelle steht, bieten viele Vereine und Gemeinschaften auch Aktivitäten an, die nicht nur die Integration in den Vordergrund stellen. Beispielsweise sorgen Flüchtlingsorganisationen auch dafür, dass Flüchtlinge und ihre Kinder die Nähe zu ihrer Kultur und Sprache nicht verlieren. Das Potenzial sei gross, sagt Haile Kassa Hailu, aber die Herausforderungen leider auch.
Zu wenig finanzielle Ressourcen und mangelnde Anerkennung
Grenzen setzen diesen Angeboten vor allem die fehlenden finanziellen Ressourcen und die nicht vorhandenen Beziehungen, wie Haile Kassa Hailu weiter schildert. Daher sei es wichtig, dass die Flüchtlingsorganisationen breiter anerkannt werden. “Dadurch können auch der Austausch und die Kommunikation zu den Organisationen verbessert werden”, fügt Anja Klug hinzu, “wobei ein wirklicher Austausch wichtig ist und die Vereine nicht nur punktuell kontaktiert werden”. Die regelmässige Kommunikation mit Flüchtlingsorganisationen ermöglicht es auch, dass diese mehr in Planungs-, Koordinierungs- und Entscheidungsprozesse miteinbezogen werden.
Während Anja Klug die Bühne verlässt und sich auf einen Stuhl in der ersten Reihe setzt, betreten drei andere Personen die Bühne. Haile Kassa Hailu steht nun zwischen drei Vertretern von Flüchtlingsgemeinschaften in der Schweiz und in Liechtenstein. Im zweiten Teil des Anlasses erzählen Maryam Sediqi (Afghan Women Association Switzerland), Qatro Shire Mohamed (Somali Swiss Development Organization) und Amine Diare Conde (Essen für alle) von der Arbeit in ihren Vereinen. Während sich AWAS ausschliesslich für afghanische Frauen einsetzt, richtet sich die Organisation “Essen für alle” an alle Personen, die von Armut betroffen sind. Die Somali Swiss Development Organization möchte Personen aus Somalia, die sich in Notsituationen befinden, eine helfende Hand bieten. Mehr über die porträtierten Organisationen unten.
Mehr Austausch mit den Behörden
Im dritten Teil der Veranstaltung vertreten Franziska Teuscher von der Stadt Bern und Adrian Gerber vom Staatssekretariat für Migration (SEM) die Sicht der Behörden. Schnell zeigt sich, dass zwischen den Behörden und den Flüchtlingsgemeinschaften ungeklärte Fragen gibt.
Anja Klug eröffnet die Panel-Diskussion mit einem wegleitenden Satz: “Die langfristige Arbeit mit Flüchtlingsgemeinschaften ist wichtig.”
Während Maryam Sediqi, die als Vertreterin der Flüchtlingsgemeinschaften an der Diskussion teilnimmt, erklärt, dass die finanzielle Unterstützung von Behörden und die Zusammenarbeit mit diesen von grosser Bedeutung ist, erwidert Adrian Gerber, dass das SEM keine politisch motivierten Projekte unterstützen kann und die Projektziele klar definiert werden müssen. Er empfiehlt den Vereinen aber, sich vor allem auf die Zusammenarbeit mit lokalen Akteuren zu fokussieren und nur eine punktuelle Unterstützung des SEMs hinzuzuziehen. Der Austausch sei aber im letzten Jahr deutlich verbessert worden, da die Integrationspolitik den Fokus mehr auf Partizipation und Austausch gelegt hat, erklärt Gerber.
Betreffend die Einbeziehung von und der Austausch mit Flüchtlingsgemeinschaften zieht Franziska Teuscher von der Stadt Bern eine positive Bilanz. Die Fachkommission für Migrations- und Rassismusfragen, bei der auch Vertreter von Flüchtlingsorganisationen mitwirken, habe viel zur verbesserten Vernetzung zwischen verschiedenen Organisationen beigetragen. In Bezug auf die finanzielle Unterstützung von Projekten, die Flüchtlingsorganisationen leiten, schliesst sie sich Adrian Gerber an und betont, dass auch die Stadt Bern nur konkrete Projekte mit genauen Zielen finanziell unterstützen kann.
Afghan Women Association Switzerland
“Die Abkürzung des Vereinsnamens ist ‘AWAS’ kann mit ‘die Stimme übersetzt werden”, beginnt Maryam Sediqi. Die junge Frau mit langem, dickem Haar steht selbstbewusst neben Haile Kassa Hailu und erzählt von ihrer Flüchtlingsorganisation, die sich für afghanische Frauen einsetzt. Der Verein unterstützt sowohl Frauen in Afghanistan mit Projekten als auch die Integration von Afghaninnen in der Schweiz. Ein besonderer Schwerpunkt von AWAS ist die Förderung des Einstiegs in die Arbeitswelt. Die Probleme, mit denen sie als Verein konfrontiert werden, decken sich mit den Herausforderungen, die Haile Kassa Hailu beim Verfassen des Berichts identifiziert hat: “Oft fehlt die finanzielle Unterstützung von den Behörden.” Dank der Hilfe von anderen Vereinen sei die Realisierung von mehreren Projekten trotzdem möglich gewesen.
Somali Swiss Development Organization
Menschen zusammenbringen – das ist das Ziel des Vereins, dem Qatro Shire Mohamed angehört. “Unser Verein ist konfessionslos und soll eine Gemeinschaft für Kultur, Integration und Unterstützung sein.”, erklärt Qatro Shire Mohamed. Geographisch gesehen fokussiert sich der Verein vor allem auf Mitglieder in Liechtenstein und in der Ostschweiz. Genauso wie AWAS möchte auch die Somali Swiss Development Organization Frauen unterstützen, aber auch allgemein Personen aus Somalia in Notsituationen helfen. Die Unterstützung von Frauen zeigt sich unter anderem darin, dass sich der Verein aktiv gegen weibliche Genitalverstümmelung einsetzt. Auf die Frage, was dem Verein trotz den Herausforderungen geholfen hat, weiterzumachen, antwortet sie ruhig: “Zusammenhalten. Wir schauen gemeinsam. Wir lösen Probleme gemeinsam.”
Essen für alle
Amine Diare Conde kommt ursprünglich aus Guinea und ist seit 2014 in der Schweiz. Anfangs stand ihm wenig Geld zur Verfügung. Dieses konnte er in Deutschunterricht investieren, da viele gemeinnützige Organisationen wie Kirchen gratis Mahlzeiten angeboten haben. Mit der Covid-19 Pandemie veränderte sich dies aber – und dann kam ihm die Idee, einen Verein zu gründen. “Niemand darf in der Schweiz hungern.”, sagt er bestimmt. Der Verein richtet sich, im Gegensatz zu AWAS und Somali Swiss Development Organization, nicht nur an geflüchtete Personen, sondern heisst auch andere in der Schweiz von Armut betroffene Personen willkommen. Durch die wöchentliche Essensausgabe, welche durch Spenden unterstützt wird, können über 1500 Personen mit Essen versorgt werden. Der Verein bietet aber viel mehr als nur das, denn auch Integration, Sprache und Netzwerk werden dadurch gefördert. “So können auch wichtige Informationen schnell verbreitet werden.”, erzählt er weiter. Die Motivation, weiterzumachen, geben ihm die Leute, die jeden Samstag kommen. “Seit wir angefangen haben, haben wir keinen Samstag aufgehört. Die Leute kommen immer.”