Von der Flucht zum Rednerpodest

Von der Flucht zum Rednerpodest
Im Alter von zwölf Jahren kam Maryam Sediqi 2005 nach einer langen Flucht aus Afghanistan mit ihrer Familie in die Schweiz. Bereits ein Jahr später hielt sie an ihrer Schule ihre erste öffentliche Rede über ihre Fluchterfahrungen. Seitdem hat sie zahlreiche Reden gehalten, darunter die Eröffnungsrede des 9. Schweizer Asylsymposiums. Maryam engagiert sich seit Jahren für afghanische Flüchtlinge und gründete 2021 gemeinsam mit zwei anderen Frauen den Verein AWAS, Afghan Women Association Switzerland. Von Januar bis Juni 2024 war sie als Refugee Advisor beim UNHCR-Büro für die Schweiz und Liechtenstein tätig und leitete das Refugee Speakers Programm, in dem sie vier Flüchtlinge im öffentlichen Reden coachte. In einem Interview gibt sie Einblicke in ihre Erfahrungen.
Was war deine Motivation, das Refugee Speakers Programm zu leiten, und welche Ziele hast du dir zu Beginn des Programms gesetzt?
Meine Hauptmotivation war die Zusammenarbeit mit UNHCR. Ich wollte einen Einblick in die Arbeitsweise dieser Organisation gewinnen. Zudem passte das Programm perfekt zu mir, da ich bereits vielfältige Erfahrungen als Rednerin gesammelt habe. Meine Leidenschaft zum Beruf zu machen und dieses Programm zu leiten, war für mich die ideale Gelegenheit, persönlich zu wachsen und gleichzeitig einen Unterschied zu bewirken. Ich möchte insbesondere Menschen mit Fluchterfahrung ermutigen, vor Publikum aufzutreten und ihre Stimme zu erheben.
Kannst du einige Herausforderungen beschreiben, denen die Teilnehmenden während der Workshops begegnet sind, und wie diese überwunden wurden?
Eine der ersten Herausforderungen war die fehlende Erfahrung im öffentlichen Reden. Fast alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer hatten keine Erfahrung. Es war eine Herausforderung, ihnen beizubringen, wie man sich auf der Bühne präsentiert, über ein Thema spricht und Fragen beantwortet. Auch das Schreiben der Reden war herausfordernd, da es Übung und Erfahrung erfordert, um Gedanken zu strukturieren. Am meisten half den Teilnehmenden mein kontinuierliches 1:1-Coaching, um das Schreiben und Präsentieren von Reden zu üben. Der Workshop mit dem Mediencoach Oliver Schröder war ebenfalls sehr hilfreich, da er die Teilnehmenden zum Üben vor die Kamera stellte und ihnen die notwendigen Techniken beibrachte.
Welcher Aspekt des Refugee Speakers Programms war für dich persönlich besonders erfüllend und warum?
Das Programm war für mich eine Herzensangelegenheit und Leidenschaft, die ich dadurch entdeckt habe. Als Projektleiterin habe ich bereits Mitarbeitende geführt und Schulungen durchgeführt, was mir immer gut lag. Doch das Refugee Speakers Programm hat mein Interesse noch verstärkt. Am meisten erfüllte mich das positive Feedback der Teilnehmenden. Alle waren überrascht über ihre neu gewonnenen Fähigkeiten, haben viel dazugelernt und können nun vor Publikum sprechen und Advocacy betreiben. Die Reden der Refugee Speakers anlässlich des Weltflüchtlingstags am 20. Juni haben mir gezeigt, dass jeder mit etwas Übung, Motivation und Willenskraft ein guter Redner werden kann.
“Ich möchte insbesondere Menschen mit Fluchterfahrung ermutigen, vor Publikum aufzutreten und ihre Stimme zu erheben.”
Welche Ratschläge würdest du anderen Organisationen geben, die ein ähnliches Programm starten möchten?
Das Refugee Speakers Programm erfordert eine enge Beziehung zwischen der Leitung und den Teilnehmenden. Vertrauen ist dabei entscheidend. Deshalb sollte die Leitungsperson selbst Fluchterfahrung haben, um die Teilnehmenden besser zu verstehen. Empathie ist sehr wichtig.
Das Programm sollte nicht mit zu wenigen Teilnehmern starten. Ich empfehle mit mindestens zehn zu beginnen, da es immer sein kann, dass nicht alle es schaffen das Programm bis zum Ende durchzuführen. Erfahrung im öffentlichen Reden ist hilfreich, aber Disziplin, Engagement und Motivation sind noch entscheidender. Der Zeitplan sollte ausserdem sorgfältig erstellt und die Coaches für die Workshops frühzeitig festgelegt werden.
Welche persönlichen Erkenntnisse hast du während der Leitung des Refugee Speakers Programms gewonnen? Wie war es für dich, diesen Weg von deiner ersten Rede über deine eigene Fluchterfahrung bis hin zur Leitung des Projekts zu gehen?
Ich habe die Bedeutung von Storytelling gelernt: Es geht nicht nur darum, Geschichten zu erzählen, sondern sie als Mittel zu nutzen, um wirksame Botschaften zu vermitteln. Das Programm hat mir auch gezeigt, dass ich Menschen gerne unterstütze und ihnen helfe, ihr volles Potenzial auszuschöpfen.
Es war für mich ein Déjà-vu, da ich oft an meine eigenen Anfänge zurückdachte. Damals hatte ich keine Trainings wie das Refugee Speakers Programm. Ich finde es eine grossartige Gelegenheit, von Grund auf zu lernen, wie man vor Publikum steht und eine wichtige Botschaft vermittelt. Hätte mir jemand vor ein paar Jahren gesagt, dass ich dieses Programm leiten würde, hätte ich es als Scherz betrachtet. Ich bin dankbar, dass ich diese Chance hatte.
Ich habe viel über mich selbst gelernt, und die Zusammenarbeit mit dem Team hat mir grossen Spass gemacht. Ich habe erfahren, wie die interne Zusammenarbeit bei UNHCR funktioniert und wie die Arbeit in der Schweiz und Liechtenstein organisiert ist. Ich kann mir gut vorstellen, in naher Zukunft ähnliche Projekte zu leiten, die wiederum zu Veränderung beitragen.