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"Dank der Menschen, die für mich zur Familie geworden sind, bin ich jetzt hier zuhause"

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"Dank der Menschen, die für mich zur Familie geworden sind, bin ich jetzt hier zuhause"

Ein Gespräch mit Dr. Amna Mehmood, die bereits als geflüchtetes Mädchen in Pakistan ihre Liebe für Chemie entdeckte
18. Dezember 2025
Amna im Labor

Dr. Amna Mehmood ist mit ihrer Familie als Kind aus Afghanistan nach Pakistan geflohen. Trotz erheblicher Hürden schaffte sie es zu studieren. Durch ein Stipendium kam sie nach Deutschland, wo sie einen Master und dann einen Doktor in Biochemie machte. Heute lehrt sie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und setzt sich für Flüchtlinge ein. Wir haben mit ihr gesprochen:

Liebe Amna, fangen wir von vorne an. Kannst du uns von deiner Kindheit erzählen?

Gerne. Ich komme aus Kabul. Dort habe ich mit meiner Familie gelebt, bis ich acht Jahre alt war. Dann mussten wir 1992 vor dem Bürgerkrieg, der damals in Afghanistan herrschte, nach Pakistan fliehen. Dort waren wir die nächsten 18 Jahre als Flüchtlinge. Vieles war nicht einfach, aber meine Eltern hatten ein Credo: ‚Wir haben uns diese Situation und den Krieg nicht aussuchen können. Aber jetzt sind wir hier und nutzen unsere Zeit. Wir machen das Beste draus.‘ Und das haben wir gemacht.

Erinnerst du dich noch an eure Flucht aus Kabul? Wie war es für dich, das als Kind erleben zu müssen?

Ich erinnere mich sehr gut daran. Bevor wir nach Pakistan fliehen konnten, haben wir uns drei Wochen in unserem Keller versteckt. So etwas vergisst man nicht. Und dann, eines Nachts, haben wir uns heimlich und nur mit einem Koffer und der Kleidung, die wir trugen, rausgeschlichen. Es durfte ja keiner merken, dass wir vorhatten, zu fliehen. Wir haben es geschafft und sind auf einem LKW über die Grenze gekommen. Meine Eltern waren Menschen- und Frauenrechtsaktivist*innen. Wir hatten damals keine andere Wahl.

Übrigens sind wir gleich zweimal nach Pakistan geflohen. Vier Jahre später sind wir für kurze Zeit zurück nach Afghanistan, weil wir von dort aus weiter wollten. Das war allerdings sehr gefährlich für unsere Familie und meine Eltern mussten sich in Afghanistan so verschleiern und verkleiden, dass sie nicht erkannt werden konnten. Am Ende hat es nicht geklappt und wir mussten zurück nach Pakistan. Ich habe aber noch eine Erinnerung aus der Zeit in Kabul, die mich sehr geprägt hat: Ich weiß noch genau, wie wir damals auf der Straße gehört haben, dass Frauen weinten. Zuerst war mir nicht klar, warum. Und dann sahen wir, dass sie öffentlich mit Stromkabeln ausgepeitscht wurden. Der Grund: Sie hatten weiße Schuhe getragen! Das hat für eine so brutale Strafe schon gereicht. Weiße Schuhe...

Jedes Mal, wenn ich heute weiße Schuhe trage, ist das für mich eine Erinnerung an diese Frauen – und eine Form des Widerstands.

Heute unterrichtest du an der Universität in Halle. Wie hast du es geschafft, deinen Bildungsweg trotz aller Hindernisse zu bestreiten?

Zurück in Pakistan bin ich dann wieder in die Schule. Ich hatte großen Spaß am Lernen und gehörte auch immer zu den besten. Allerdings gab es ein Problem: Ab der zehnten Klasse gab es kein Kurrikulum und keine Klassen mehr an der öffentlichen Schule, die ich besuchte. Ich hatte allerdings einen netten Lehrer, der sich mit mir zu zweit getroffen hat, um mir Mathe und Physik beizubringen. Für die Naturwissenschaften musste ich selbstständig lernen. Ich habe also autodidaktisch Bio und Chemie gelernt und es hat mir sehr gefallen.

Ich bin den Menschen in Pakistan dankbar für ihre Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft und Solidarität gegenüber meiner Familie und mir. Gleichzeitig war es ohne klare institutionelle Strukturen schwierig, über das tägliche Überleben hinaus langfristige Zukunftsperspektiven zu entwickeln.

Amna in der Schule

Amna als Schülerin in Pakistan (1997)

Du hast es aber geschafft, deine Schulbildung in Pakistan abzuschließen?

Ja. Die Abschlussprüfung konnte ich dann als externe Schülerin abgelegen und habe bestanden.

Dank meiner guten Noten konnte ich anschließend ein sehr gutes College in Rawalpindi besuchen. Dort war ich zum ersten Mal von gut ausgestatteten Laboren und eigenen Dozentinnen und Dozenten für jedes Fach umgeben, was mich sehr beeindruckt hat.

Nach dem Abschluss der 12. Klasse (Abitur) wollte ich an die Universität. Dafür gab es für Geflüchtete jedoch keinen direkten Weg, und es hat mehr als ein Jahr gedauert, bis ich eine Möglichkeit gefunden habe.

Und wie hast du es dann an die Universität geschafft?

Zusammengefasst würde ich sagen: Das System war zwar nicht da, aber es gab immer nette Leute, die mir geholfen haben. So ja schon mein Lehrer, der mir quasi Privatunterricht gegeben hatte.

Als ich zur Uni wollte, hat mich dann ein Freund meines Vaters, der Pakistaner war, dabei sehr unterstützt. Und meine Eltern haben mir immer den Rücken gestärkt. Zum Beispiel waren die Studiengebühren zu hoch, als dass ich die einfach hätte bezahlen können. Später habe ich erfahren, dass es an der Universität eine Gebührenerleichterung gab, wenn man zu den besten zehn Prozent eines Semesters gehörte. Das wurde zu meinem persönlichen Ziel – nicht aus Ehrgeiz, sondern um es meinen Eltern finanziell ein wenig leichter zu machen.

Amna im Englischunterricht

Amna im Englischunterricht

Ich habe dann einen Bachelor in Biotechnologie gemacht. An der Uni konnte ich dann auch ins Labor. Das war so aufregend!

Deinen Master hast du dann in Bremen in molekularer Genetik gemacht. Wie kam es dazu?

Über Umwege. (lacht)

Nachdem ich mein Studium beendet hatte, ist meine Familie zurück nach Afghanistan gegangen. In Kabul angekommen, habe ich aber schnell gemerkt, dass niemand etwas mit meinem Abschluss anfangen konnte. Also habe ich in einem Unternehmen in der Personalabteilung angefangen. Und irgendwie habe ich mich immer schon ein bisschen anders gefühlt. Alle in Kabul haben damals Englisch gelernt. Das konnte ich schon ganz gut, also habe ich mir gedacht: ‚Ich mache was anderes. Ich lerne Deutsch.‘

Ich habe beim Goethe Institut bei einer ganz netten Lehrerin, Ulli, Unterricht genommen. Und eines Tages hat mich dann eine Kollegin auf ein Stipendium vom DAAD aufmerksam gemacht. „Du kannst doch Deutsch, schau dir das doch mal an“, hat sie gesagt.

Und es hat geklappt.

Ja, allerdings habe ich damals wieder ein Jahr gebraucht um alle Dokumente zu besorgen und beglaubigen zu lassen, die es für meine Immatrikulation und für mein Visum brauchte. Dann ging es endlich los und ich war zuerst für drei Monaten in Köln und habe da einen Deutschkurs gemacht, bevor ich das Studium in Bremen beginnen konnte.

Was ich nie vergessen werde, ist wie ich damals am Hauptbahnhof von Köln ankam. In Pakistan musste ich immer mit dem Bus zur Uni und zurück. Ich habe versucht, mich so unauffällig wie möglich zu kleiden. Denn wenn die Leute merkten, dass man ein afghanisches Mädchen war, wurde man schnell bedrängt. Ich wollte die meiste Zeit in meiner Jugend so unsichtbar wie möglich zu sein.

Und dann stand ich auf einmal in der Mitte des Kölner Bahnhofs und überall waren Leute um mich herum. Und mir ist aufgefallen, dass mich niemand berührte. Und falls mal jemand aus Versehen in mich reinlief, sagten sie sofort ‚Entschuldigung‘. Das hat sich wirklich eingebrannt: Du kannst in einer Menschenmasse sein, und trotzdem deinen persönlichen Raum behalten.

Als ich dann an der Uni in Bremen war, bin ich oft bis 22 Uhr im Labor geblieben und war einfach so dankbar, da zu sein.

Mein Supervisor hatte eine hohe interkulturelle Kompetenz und hat mein Potenzial dann erkannt und mich gefördert.

Ich bin insgesamt acht Jahre in Deutschland geblieben und habe auch promoviert.

Das war ein großer Schritt für das kleine Mädchen von damals, das davor nie ein Labor von innen gesehen hatte.

In diesen Jahren bin ich gefühlt halb Deutsche geworden. Es war für mich eine große Freiheit, mit meinen Professoren diskutieren zu können und ich habe gelernt, als Frau auch nein sagen zu können.

Amna bekommt ihren Doktortitel

Amna bekommt den Doktortitel verliehen

Wie ging es dann für dich weiter?

Ich bin nach meiner Promotion zurück nach Afghanistan und habe dort im Gesundheitsministerium in Kabul an einem Projekt mit der Weltgesundheitsorganisation gearbeitet. Ich war die einzige Frau, aber es hat mir Spaß gemacht, denn ich konnte mein Wissen an andere weitergeben. Dieses Projekt hat ein Jahr gedauert. Danach habe ich mich entschieden, zurück nach Deutschland zu gehen, um zu habilitieren. Ich habe allerdings bis zur Machtübernahme der Taliban noch bei Webinaren teilgenommen. Das ging dann ab 2021 nicht mehr, weil es nicht gereicht hat, wenn ich mich ohne Kamera dazugeschaltet habe. Frauenstimmen waren dann in den Calls auch nicht mehr erlaubt.

Heute lebst du in Halle. Von dort machst du dich für Flüchtlinge stark. Was motiviert dich?

Ich fühle mich hier wirklich zuhause. Das liegt besonders an den Menschen, die hier für mich wirklich zur Familie geworden sind. So zum Beispiel meine beste Freundin. Ich habe sie auf der Arbeit kennengelernt und sie war diejenige, die meinen Sohn als allererste nach seiner Geburt gesehen hat. Diese Verbindung kann man nicht beschreiben. Oder auch unser Nachbarspaar. Wir laden sie immer zu uns ein und für uns sind sie Oma und Opa. Ganz einfach.

Amna bei ihrer Einbürgerung

Amna bei ihrer Einbürgerung

Ich höre oft, dass Leute sich beschweren. Aber weißt du, jeden Tag, den ich hier aufwache, bin ich dankbar. Das gebe ich auch an meine Kinder weiter. Wir sollten dankbar für das System sein und daran arbeiten, es noch besser zu machen. Anstatt dagegen anzuarbeiten. Das will ich auch anderen Menschen vermitteln, die neu in Deutschland sind.

Und warum ich mich für Flüchtlinge und auch für Frauen in Afghanistan stark mache?

Ein entscheidender Wendepunkt in meinem Leben war das DAAD-Stipendium, das mir ein Studium in Deutschland ermöglichte. Diese Chance hat nicht nur meinen eigenen Bildungsweg verändert, sondern auch mein Verantwortungsbewusstsein dafür gestärkt, etwas zurückzugeben. Heute engagiere ich mich für geflüchtete Menschen und insbesondere für afghanische Frauen, arbeite mit internationalen Büros zusammen und gestalte interkulturelle Kompetenz-Workshops für internationale Studierende – junge Menschen, die wie ich einst neu in einem fremden System ankommen und Orientierung brauchen.

Es gibt ein Gedicht, das sehr gut beschreibt, wie ich meine Flucht und meinen Weg erlebt habe:

Wo immer ich Zuflucht finden konnte, wurde es zu einer Heimat für mich.
Und wo immer ich in meinen Tränen zur Ruhe kam, verwandelte es sich mit der Zeit in einen Garten.

Für mich beschreibt dieser Vers sehr schön, wie aus Schmerz, Unsicherheit und Anfangsschwierigkeiten langsam wieder Hoffnung, Zugehörigkeit und neues Leben entstehen können.

Meine Geschichte ist keine Ausnahme. Sie zeigt, was möglich wird, wenn Menschen Schutz, Zeit und Zugang zu Bildung erhalten – und die Chance bekommen, ihre Fähigkeiten für die Gesellschaft einzubringen.